Kommen bald wieder mehr Flüchtlinge?
Noch hält das Abkommen zwischen der EU und der Türkei. Nur wie lange noch – das ist die Frage. In Berlin reden die ersten Koalitionäre schon von Erpressung
Berlin Ein guter Diplomat sagt vieles nicht und manches lieber nicht so deutlich. Wo jeder andere von einem handfesten Streit reden würde, spricht er von einem offenen Meinungsaustausch. Und wenn Recep Tayyip Erdogan der Europäischen Union im Streit um die Flüchtlingspolitik plötzlich ein Ultimatum stellt, dann ist das für einen Diplomaten wie Martin Schäfer auch keine Drohung und schon gar kein Erpressungsversuch, sondern lediglich „ein kräftiger Ausdruck der türkischen Verhandlungsposition“.
Schäfer, der Sprecher des Auswärtigen Amtes, hat am Tag nach der großen Pro-Erdogan-Demonstration in Köln die vielleicht undankbarste Aufgabe im politischen Berlin. Während der Rest der Republik sich fragt, ob nicht bald die nächste Flüchtlingswelle auf Deutschland zurollt, soll er die Lage tunlichst nicht weiter eskalieren lassen. Ja, Erdogan droht damit, den Flüchtlingspakt wieder aufzukündigen, wenn die EU seine Landsleute nicht bald ohne Visum einreisen lässt. Ja, sein Außenminister hat den deutschen Gesandten Robert Dölger gerade zu einem Gespräch einbestellt, ein deutliches Zeichen der Verärgerung. Was aber meint Schäfer, der erfahrene Diplomat, dazu?
Solche Gespräche, wehrt der ab, seien zunächst einmal nichts Außergewöhnliches, sondern vielmehr „eine übliche Gepflogenheit“zwischen zwei Staaten und eine schöne Gelegenheit, sich auszutauschen. Jetzt den Botschafter abzuziehen, wie Erdogan es nach der ArmenienResolution des Bundestages im Juni mit seinem Statthalter in Berlin getan hat, wäre jedenfalls kontraproduktiv, findet Schäfer, der Diplomat: „Wir wünschen uns einen möglichst intensiven Dialog.“Solange das Abkommen nicht gekündigt ist, soll das heißen, geht die Bundesregierung davon aus, dass die Türkei ihren Teil auch erfüllt. Alles andere? Pure Spekulation!
Gerumpelt hat es zwar schon häufiger zwischen Deutschland und der Türkei. Zwei Wochen nach dem gescheiterten Putsch aber vergeht inzwischen kaum ein Tag, an dem Erdogan oder einer seiner Minister nicht in Richtung Berlin stichelt. Politisch am brisantesten ist allerdings die Drohung, keine Flüchtlinge mehr aus Griechenland zurückzunehmen, wenn die Visafreiheit für Türken bis Oktober nicht eingeführt ist. In diesem Falle, räumt Schäfers Kollege Tobias Plate aus dem Innenministerium ein, könne er einen erneuten Anstieg der Flüchtlingszahlen nicht ausschließen: „Möglich ist das natürlich.“
Zum einen, fügt Plate dann noch hinzu, herrsche im Hinblick auf das Flüchtlingsabkommen noch „eine gewisse Fragilität“. Zum anderen werde das Leid in der Welt auch nicht weniger. Zuletzt sind zwar kaum noch Menschen über die Ägäis nach Griechenland geflohen und auch die Balkanroute ist noch dicht – das könnte sich aber auch ändern, wenn Erdogan das Rücknahmeabkommen storniert. Viele Kommunen trauen den zuletzt deutlich niedrigeren Zahlen ohnehin nicht: Nach einer Anfang Juli veröffentlichten Umfrage der Beratungsgesellschaft Ernst & Young erwarten die Bürgermeister und Landräte auch in diesem Jahr mehr als 700 000 Flüchtlinge. Ohne das im März ausgehandelte Abkommen mit Ankara, warnt auch der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok, kämen wieder Millionen Menschen nach Europa.
Da Botschafter Martin Erdmann gerade in Urlaub ist, fährt am Montagnachmittag in Ankara dessen Vertreter Dölger zum diplomatischen Rapport ins türkische Außenministerium – nicht zum ersten Mal. Was genau Deutschland diesmal neben der vom Verfassungsgericht verbotenen Übertragung einer Erdogan-Rede auf eine Videoleinwand in Köln vorgeworfen wird, bleibt zunächst unklar. Auf ein Entgegenkommen in der Visa-Frage aber sollte der Präsident lieber nicht hoffen. „Es liegt an der Türkei“, sagt Vizekanzler Sigmar Gabriel – unter anderem hat Ankara der EU versprochen, als Gegenleistung für die Visafreiheit die türkischen AntiTerror-Gesetze so zu korrigieren, dass diese nicht mehr zur Jagd auf Journalisten und Oppositionelle missbraucht werden können. „In keinem Fall“, warnt Gabriel, „darf Deutschland oder Europa sich erpressen lassen.“
Diplomat Schäfer würde jetzt vermutlich sagen: „Das ist ein kräftiger Ausdruck der deutschen Verhandlungsposition.“