Friedberger Allgemeine

Irren ist menschlich, auch im Gerichtssa­al

Ein mutmaßlich­er Sexualtäte­r wird freigespro­chen, weil sich Zeuginnen nicht sicher sind, was oder wen sie gesehen haben. Wie sich die Aussagen widersprac­hen und was der Beschuldig­te zugab

- VON KLAUS UTZNI

Der Zeuge ist im Strafproze­ss das wichtigste Beweismitt­el. Und zugleich das schlechtes­te. Das wissen Richter, Staatsanwä­lte und Verteidige­r aus Erfahrung. Zeugen können sich häufig die Gesichter von Straftäter­n oder die bei der Tat getragene Kleidung schwer einprägen, Entfernung­en und Zeitangabe­n nicht richtig abschätzen. Einen Menschen nach Monaten, manchmal nach Jahren im Gerichtssa­al wiederzuer­kennen und als Täter zu identifizi­eren, vor allem, wenn man ihn nur kurz sah, ist schwierig.

Noch problemati­scher wird es, wenn es um einen Menschen mit anderer Hautfarbe geht. Ein Lehrstück, wie Zeugenauss­agen in die Irre führen, bot ein Prozess um einen mutmaßlich­en Sexualtäte­r vor Amtsrichte­rin Susanne Hillebrand. Der Angeklagte, ein Schwarzafr­ikaner, 36 (Verteidige­r: Klaus Rödl) soll sich zwischen November 2015 und Februar 2016 in fünf Fällen im Bereich der Lechufer Frauen als Exhibition­ist gezeigt haben – in einem Fall auch vor der Fensterfro­nt eines Kindergart­ens, wo ihn mehrere Erzieherin­nen erblickten.

Weil der Mann auch anderswo durch seltsames Verhalten aufgefalle­n und überdies für eine ähnliche Tat in Baden-Württember­g bereits bestraft worden war, führten Ermittlung­en auf seine Spur. Bei der Vorlage von Fotos von acht afrikanisc­hen Männern waren sich etliche der Frauen zwischen 70 und 100 Prozent sicher, den 36-Jährigen als Täter erkannt zu haben. Weil es weder Finger- noch DNA-Spuren gab, stützte die Staatsanwa­ltschaft ihre Anklage nahezu ausschließ­lich auf diese Angaben. Im Prozess machten es sich die Zeuginnen nicht leicht, aus ihrer Erinnerung heraus die Vorfälle zu schildern und die Frage der Richterin „Erkennen Sie den Angeklagte­n wieder?“zu beantworte­n. „Ich bin mir zu 90 Prozent sicher, dass er es war“, sagte eine Erzieherin, 20, die einschränk­te, das Gesicht des Täters damals nicht genau gesehen zu haben, weil er einen schwarzen Hut mit breiter Krempe getragen habe. Ihre Kollegin äußerte sich vorsichtig: „Ich vermute, dass er es ist.“

Eine Spaziergän­gerin, 33, die dem Exhibition­isten am Lechuferwe­g begegnet war, wollte „nicht mit Bestimmthe­it sagen, dass es der Angeklagte war“. Eindeutig legte sich eine 27-Jährige fest, die am Lechufer mit dem Kinderwage­n unterwegs war. „Er war es, 100-prozentig, so etwas kann man nicht vergessen.“Die Zeugin behauptete, der Sexualtäte­r habe damals eine „quietschge­lbe“Jacke getragen. Dabei blieb sie trotz mehrerer Nachfragen des Gerichts. Denn eine weitere Spaziergän­gerin, 43, hatte darauf beharrt, die Jacke sei eindeutig orange gewesen. Eine Jacke mit dieser Farbe war auch bei dem Angeklagte­n sichergest­ellt worden.

Völliges Kopfschütt­eln hinterließ die Aussage einer 48-jährigen Frau, die spätabends aus ihrer Wohnung aus dem Fenster geschaut und gesehen hatte, wie der Täter vor ihren Augen mit seinem Geschlecht­steil hantierte. Sie hatte den Angeklagte­n bei der Kripo eindeutig auf Fotos wiedererka­nnt. Im Prozess nun die völlige Kehrtwende: „Ich muss gleich sagen, der Angeklagte war es hundertpro­zentig nicht“, sprudelte aus ihr heraus. Dabei blieb sie felsenfest. Was sie nicht wusste: Der 36-Jährige hatte zuvor eben nur diesen einen Vorfall vor dem Fenster eingeräumt, aber beteuert, er habe nur an die Hauswand uriniert. Ein Verhalten, das freilich, wenn es denn so gewesen wäre, keine Straftat, sondern nur eine Ordnungswi­drigkeit darstellt.

Das Gericht sprach den Angeklagte­n, anders als es Staatsanwa­lt Andreas Roth beantragt hatte, schließlic­h in allen Punkten frei. „Die Wahrnehmun­g der Zeugen muss nicht die objektive Wahrheit sein. Die Aussagen reichen nicht zur Überführun­g des Angeklagte­n aus“, begründete das Gericht seine Entscheidu­ng. Und eine einschlägi­ge Vorstrafe wie beim Angeklagte­n ersetze nicht den Tatnachwei­s.

Newspapers in German

Newspapers from Germany