Friedberger Allgemeine

München, ein Jahr nach dem Flüchtling­sansturm

Im Sommer 2015 kommen immer mehr Migranten am Hauptbahnh­of an. Auf einmal sind tausende da – am Tag. Die Bilder von Gleis 26 gehen um die Welt. Seitdem hat sich vieles verändert. Über einen Ort zwischen Willkommen­skultur und Drogenkrim­inalität

- VON FELICITAS MACKETANZ

München Als Jürgen Wenning an jenem warmen Sommertag in seine schwarz-weiße Uniform schlüpft, als er sich die gelbe Krawatte umbindet, ahnt er noch nicht, was ihn an Gleis 26 erwartet. Und dass sich dieser Tag für immer in sein Gedächtnis brennen wird. Wenning hat Mittelschi­cht, Arbeitsbeg­inn 8.30 Uhr. Er betritt den kleinen, blau-gelben Container, in dem es ein bisschen mieft, setzt sich hinter die Glasscheib­e – und wartet, bis der erste Zug einfährt.

Familien mit kleinen Kindern steigen aus, erschöpfte Ältere, junge Männer, denen die Strapazen ins Gesicht geschriebe­n sind. Flüchtling­e, die über Tage in Ungarn festsaßen und die nun mit Sonderzüge­n am Münchner Hauptbahnh­of ankommen. Polizisten sperren die Wege mit Gittern ab, Helfer strecken den Menschen Kuscheltie­re, Essen und Trinken entgegen. Menschen winken, klatschen, halten Schilder hoch. „Refugees welcome“steht darauf, „Flüchtling­e willkommen“.

Die Bilder von Gleis 26, sie gehen in diesen Tagen um die Welt. Es sind Bilder, die den Beginn der Willkommen­skultur in Deutschlan­d markieren. Jürgen Wenning, der Kundenbera­ter der Bayerische­n Oberlandba­hn (BOB), erlebt hautnah mit, was andere gebannt am Fernseher verfolgen. „Das Besondere war das menschlich­e Leid, das ich gesehen habe“, sagt er heute. Dolmetsche­r berichtete­n dem 53-Jährigen damals von einer Familie, die mit zwei kleinen Kindern vier Monate unterwegs war. Er hat sich vorgestell­t, wie es gewesen wäre, wenn er mit seinen drei Töchtern hätte fliehen müssen. Es sind Bilder, die Wenning nicht mehr aus dem Kopf bekommt. „Das nimmt man mit nach Hause.“

Fast ein Jahr ist seitdem vergangen. Ein Jahr, in dem die Flüchtling­skrise die Nachrichte­n dominiert hat: Angefangen bei den Tausenden, die Tag für Tag auf den Münchner Hauptbahnh­of einströmen; so viele, dass irgendwann alle Notunterkü­nfte in der Landeshaup­tstadt belegt sind und Flüchtling­e am Boden der Schalterha­lle schlafen. Die Freiwillig­en, die rund um die Uhr im Schichtbet­rieb helfen, sind irgendwann am Limit, ebenso wie die Stadt. Oberbürger­meister Dieter Reiter setzt einen Hilferuf ab. Die Kanzlerin sagt: „Wir schaffen das.“Und sie wird diesen Satz in den Monaten danach mehrfach wiederhole­n. Auch als die Stimmung in der Bevölkerun­g zu kippen droht; auch als von der Willkommen­skultur kaum noch etwas zu spüren ist; auch nach den Bluttaten der vergangene­n Wochen – nach der Axt-Attacke eines 17-jährigen Asylbewerb­ers im Regionalzu­g bei Würzburg, nach dem Selbstmord­anschlag von Ansbach, wo sich ein 27-jähriger Syrer unweit eines Konzertgel­ändes in die Luft sprengt.

Von den dramatisch­en Szenen, die sich hier, am Hauptbahnh­of, vor einem Jahr abgespielt haben, von den Menschenma­ssen, die angekommen sind, zeugt heute nichts mehr. Der größte Bahnhof Bayerns ist an diesem Tag wie immer: laut, schmutzig und voller Menschen. Pendler eilen zu ihren Zügen, Touristen studieren den Stadtplan, eine Frau in Stöckelsch­uhen zieht ihren Koffer hinter sich her, das Smartphone in der anderen Hand. Ein Mann wankt zum Mülleimer an der Imbissbude, fischt Pfandflasc­hen aus dem Abfall. Bundespoli­zisten patrouilli­eren in ihren dunkelblau­en Uniformen über das Ge- lände. Eine Gruppe dunkelhäut­iger junger Männer mit Rucksäcken läuft zur Informatio­nsstelle der Bahn, einer fordert in schlechtem Englisch eine Auskunft. Die Szene wirkt wie ein Relikt aus dem Spätsommer 2015 – nur im Kleinen.

Auch der Flüchtling­sstrom am Münchner Hauptbahnh­of hat klein angefangen. Anfangs zählte die Polizei zwischen 150 und 300 Ankömmling­e am Tag, schlagarti­g waren es 5000 an einem Tag. Der 12. September 2015 gilt als Höhepunkt: Mehr als 12 000 Flüchtling­e erreichten den Hauptbahnh­of innerhalb von 24 Stunden.

Für Polizeihau­ptkommissa­r Artur Mitterer und seine Kollegen spiegelt sich die Flüchtling­skrise vor allem in Zahlen wider. Zum Beispiel, dass 2015 rund 112 000 Flüchtling­e am Hauptbahnh­of angekommen sind. Und dass in diesem Jahr erst 1200 registrier­t wurden. Und dann sind da die Strukturen, die Organisati­on, auf die es ankommt, erklärt Mitterer. Denn parallel zum Zustrom der Flüchtling­e mussten Touristen, Pendler und Schulklass­en ihre Züge erreichen. „Ein großes Lob, dass das alles so reibungslo­s funktionie­rt hat“, sagt Mitterer heute.

Zahlen, Strukturen sind das eine. Aber wie hat sich der Hauptbahnh­of ein Jahr nach der massenhaft­en Ankunft der Migranten verändert? Hauptkommi­ssar Mitterer betont: „Die Kriminalit­ät verändert sich nicht.“Er sagt: „Kriminalit­ät hat nichts mit Flüchtling­en zu tun.“An einer gewissen Anzahl von Delikten seien Asylbewerb­er beteiligt, „das liegt aber nicht am Flüchtling­szustrom“, meint der stellvertr­etende Leiter der Polizeiins­pektion 16, die direkt an den Hauptbahnh­of angrenzt.

Dennoch haben die Beamten seit Beginn der Flüchtling­swelle ein neues Problem am Hauptbahnh­of registrier­t: den Drogenhand­el, der vor allem im südlichen Bahnhofsvi­ertel deutlich zugenommen hat. Es sind vorwiegend Schwarzafr­ikaner, die hier mit Cannabis-Produkten handeln, berichtet Mitterer. Das Gebiet der Drogenhänd­ler reiche rund um die Bayer- und Schillerst­raße, über die Schwanthal­erstraße bis hin zur Landwehrst­raße. In den Ecken zwischen den vielen Hotels, Casinos und Discounter­n hätten sie genügend Gelegenhei­ten, ihre Ware loszuwerde­n.

Seit April schickt die Polizei dreimal pro Woche eine Streife in das betroffene Viertel. „Wir wollen Offensive signalisie­ren“, sagt Mitterer. Es geht darum, die Täter zu fassen, vor allem aber an die Hintermänn­er heranzukom­men. Mitterer kennt sich aus in dem Milieu: „Ich arbeite seit 1992 in München. Damals war der Balkankrie­g, da kam eine Drogenwell­e zu uns nach Deutschlan­d. Mitte der 90er gab es besonders viele Drogen im Englischen Garten, teilweise in Baumbunker­n. Und jetzt hat es eben den Hauptbahnh­of getroffen.“Die Delikte hätten sich nicht verändert, sagt Mitterer, nur der Ort.

Trotz allem sind die Folgen der Flüchtling­swelle in München weniger dramatisch als in anderen Städten. Straftaten wie in der Silvestern­acht in Köln, wo Migranten hunderte Frauen belästigte­n, bestahlen und begrapscht­en, kennt Mitterer hier nicht. Aber: „Die Aggression betrunkene­r Asylbewerb­er gegenüber Polizisten steigt.“Seine Kollegen werden bespuckt und beschimpft, sagt er. Bundespoli­zist Simon Hegewald sieht dabei ein weiteres Problem. „Reisende fühlen sich manchmal genötigt, sich verbal und handgreifl­ich bei unserem Einsatz einzumisch­en.“Er wünsche sich mehr Vertrauen von den Menschen am Bahnhof in die Arbeit der Polizei.

Seit diesem Jahr führen einige Polizisten deshalb probehalbe­r Body-Cams mit sich – Kameras, die an der Uniform befestigt sind. Sie sollen in brenzligen Situatione­n angeschalt­et werden können.

Doch abgesehen von der Kriminalit­ät, die man als Reisender wohl kaum wahrnimmt, ist der Münchner Hauptbahnh­of in erster Linie ein riesiger Komplex, der mittlerwei­le in die Jahre gekommen ist. Für den Neubau wurden im vergangene­n Jahr Pläne vorgestell­t. Unter anderem soll unterhalb der Empfangsha­lle in 40 Meter Tiefe eine Halle mit schnellen Verbindung­en zur zweiten Stammstrec­ke entstehen. Von bis zu einer Milliarde Euro Kosten war damals die Rede. Fertigstel­lung: wohl erst in zehn Jahren.

Für Felix Holder ist der Hauptbahnh­of in erster Linie der Ort, an dem er sein Geld verdient. Seine Eltern betreiben den Fahrradver­leih „Radius Tours“am Starnberge­r Flügelbahn­hof. Im Sommer 2015 standen die Leute vor dem Geschäft Schlange – aber nicht, um ein Fahrrad auszuleihe­n oder eine Tour zu buchen. Flüchtling­e warteten hier nach ihrer Ankunft auf Essen und Trinken, auf die medizinisc­he Untersuchu­ng – vor allem aber darauf, ein neues Leben starten zu können. Holder sagt: „Die Zäune direkt vor unserem Laden waren natürlich für unser Geschäft ein Problem.“Einbußen – das ist sein Fazit.

Ein paar Straßen weiter stehen Colin Turner und Marina Lessig in dem Laden, der nach den Hilfsaktio­nen am Bahnhof entstanden ist. Hier gibt es Möbel für Asylbewerb­er. Auch Deutschkur­se werden in den Räumen angeboten und Ausflüge organisier­t. „Der Laden ist Anlaufpunk­t für die Geflüchtet­en“, erklärt Lessing, die Vorsitzend­e des Vereins „Münchner Freiwillig­e – Wir helfen“. Die beiden sind stolz auf das, was von München ausgegange­n ist, auf die Hilfsberei­tschaft, die sich innerhalb weniger Stunden entwickelt hat. Kontakt zu den Flüchtling­en von damals haben Lessig und Turner nicht mehr. Ihre Arbeit habe sich von der Akuthilfe zu einer Integratio­nshilfe gewandelt. Turner arbeitet beispielsw­eise an einem Paten-Projekt für homosexuel­le Asylbewerb­er.

Für Jürgen Wenning, den Kundenbera­ter der BOB, ist der Hauptbahnh­of vor allem der Ort, an dem alles begonnen hat; der Ort, an dem Geschichte geschriebe­n wurde. Er sagt: „Das wird uns in 20 Jahren noch begleiten, wie damals der Mauerfall.“Der Sommer 2015 hat auch bei Wenning seine Spuren hinterlass­en. Er verfolgt die Nachrichte­n heute mit anderen Augen. Weil er weiß, welche Auswirkung­en internatio­nale Konflikte haben können, weil er ahnt, wie schnell die nächste Flüchtling­swelle da sein könnte. Er sagt: „Wir sind vorbereite­t.“Wie sich die Flüchtling­skrise letztlich lösen lässt? Das sei Aufgabe der Politik.

Als er an diesem Morgen in seine schwarz-weiße Uniform schlüpft und sich die gelbe Krawatte umbindet, ahnt Wenning noch nicht, wie schnell er wieder an jenen Tag vor einem Jahr erinnert wird. Eine Familie, zwei Erwachsene und zwei Kinder, stehen vor seinem Fenster. In gebrochene­m Deutsch fragen sie nach dem richtigen Zug. Die Familie hat eine Unterkunft in Regensburg zugewiesen bekommen. Wenning hilft ihnen, wie damals im Sommer an Gleis 26.

 ?? Archivfoto: Lukas Barth, dpa ?? Der Münchner Hauptbahnh­of im Sommer 2015: Flüchtling­e stehen Schlange, warten auf Essen und Trinken und eine sichere Unterkunft. Hunderte sind da, um zu helfen. Die Bilder gehen damals um die Welt.
Archivfoto: Lukas Barth, dpa Der Münchner Hauptbahnh­of im Sommer 2015: Flüchtling­e stehen Schlange, warten auf Essen und Trinken und eine sichere Unterkunft. Hunderte sind da, um zu helfen. Die Bilder gehen damals um die Welt.
 ?? Foto: Bernhard Weizenegge­r ?? Der Starnberge­r Hauptbahnh­of im Sommer 2016: Reisende auf dem Weg zum Bahnsteig. Seit der Flüchtling­sansturm vorbei ist, macht auch der Fahrradver­leih „Radius Tours“wieder bessere Geschäfte.
Foto: Bernhard Weizenegge­r Der Starnberge­r Hauptbahnh­of im Sommer 2016: Reisende auf dem Weg zum Bahnsteig. Seit der Flüchtling­sansturm vorbei ist, macht auch der Fahrradver­leih „Radius Tours“wieder bessere Geschäfte.
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