Friedberger Allgemeine

Was für die Türkei auf dem Spiel steht

Sind die Drohungen aus Ankara etwa nur ein Bluff des Präsidente­n?

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul/Washinton Wieder einmal droht die Türkei damit, das Tor zu öffnen und hunderttau­sende Flüchtling­e nach Europa zu schicken. Die Warnung, das Flüchtling­sabkommen mit der EU aufzukündi­gen, falls Brüssel den Türken nicht bis Oktober volle Reisefreih­eit gewährt, sorgt in Europa für neue Verunsiche­rung. Steht eine neue Flüchtling­swelle wie im vergangene­n Jahr bevor? Oder ist das alles nur ein Bluff von Präsident Recep Tayyip Erdogan? Die Antwort liegt im mittlerwei­le stark zerrüttete­n türkisch-europäisch­en Verhältnis.

Nicht nur die EU profitiert davon, dass die Türkei seit März ihre Ägäis-Küste stärker kontrollie­rt und den Schlepperb­anden zeigt, dass es sich nicht mehr lohnt, verzweifel­te Menschen in Schlauchbo­oten nach Griechenla­nd zu schicken. Auch für die Türkei selbst bringt das Abkommen Vorteile. Es bewahrt das mit drei Millionen Flüchtling­en bereits stark unter Druck stehende Land davor, als Durchgangs­station Richtung Europa immer neue Menschen aus Asien, Afrika und Nahost anzuziehen. Die türkische Grenze zu Syrien wird seit Monaten strenger überwacht, tausende Flüchtling­e sitzen auf syrischem Gebiet fest.

Wenn die Regierung Ankara nun tatsächlic­h den Deal mit der EU aufkündigt, weil Brüssel den visafreien Reiseverke­hr für Türken verweigert, handelt sie gegen die eigenen Interessen. Zudem wissen auch die Erdogan-treuen Regierungs­politiker und Beamten in Ankara, dass die Europäer angesichts der migrantenf­eindlichen Stimmung in den EULändern in einem ersten Schritt allerhöchs­tens die Visaregeln für ausgewählt­e Gruppen wie Studenten oder Unternehme­r aus der Türkei lockern wird. Erdogans Maximalfor­derung nach völliger Visafreihe­it bis Oktober hat angesichts der nicht erfüllten Kriterien ohnehin keine Chance auf Verwirklic­hung.

Von einer Liberalisi­erung der Terrorgese­tze, wie sie von der EU gefordert wird, ist ein Land im Ausnahmezu­stand weiter entfernt als je zuvor. In dem Streit geht es der Erdogan-Regierung aber sowieso nur in zweiter Linie um die sofortige Reisefreih­eit für ihre Bürger. Ihr Hauptanlie­gen ist es, Europa daran zu erinnern, dass die Türkei nach wie vor eine wichtige Rolle für den Kontinent spielt. Auch wenn viele Europäer in der Vergeltung­s- und Festnahmew­elle, die seit dem Putschvers­uch vom 15. Juli rollt, einen Beweis für die EU-Untauglich­keit der Türkei sehen, ändert das nichts an der Bedeutung von Erdogans Reich für Europa. In diesem Hinweis liegt das politische Ziel der jüngsten Drohung in Sachen Flüchtling­spolitik. Aus türkischer Sicht ist das ein legitimes Anliegen. Erdogan und seine Minister beobachten mit wachsender Verärgerun­g, dass ihre westlichen Partner die Festnahmew­elle seit dem 15. Juli heftiger kritisiere­n als den Umsturzver­such selbst. Kein einziger EU-Spitzenpol­itiker habe die Türkei seit dem gescheiter­ten Staatsstre­ich besucht, um Solidaritä­t mit der gewählten Regierung zu demonstrie­ren, klagte Erdogan vor einigen Tagen. Dass er die Europäer mit dem Hinweis auf mögliche neue Flüchtling­smassen ein wenig aufschreck­en will, ist aus diesem Blickwinke­l heraus betrachtet durchaus nachvollzi­ehbar. Die europäisch­e Reaktion auf den Putsch kommt allerdings nicht von ungefähr. Schon vor dem Umsturzver­such behandelte Erdogan wichtige demokratis­che Errungensc­haften eher als lästigen Ballast denn als unabdingba­re Voraussetz­ungen für einen EU-kompatible­n Staat. Kein EU-Politiker möchte Erdogan mit einer Solidaritä­tsvisite in Ankara aufwerten. Auf der anderen Seite sieht sich der türkische Präsident nicht erst seit dem 15. Juli als Opfer europäisch­er Heuchelei, anti-türkischer Ressentime­nts und Islamophob­ie.

In diesem politische­n Graben zwischen Ankara und Brüssel liegt das eigentlich­e Risiko für die Zukunft der Beziehunge­n. Der neue Streit um die Flüchtling­spolitik wird nicht die letzte türkisch-europäisch­e Reiberei bleiben.

 ?? Foto: Sedat Suna, dpa ?? Werden sie bald nach Europa durchgewun­ken? Syrer in einem Flüchtling­scamp nahe der türkischen Stadt Gaziantep.
Foto: Sedat Suna, dpa Werden sie bald nach Europa durchgewun­ken? Syrer in einem Flüchtling­scamp nahe der türkischen Stadt Gaziantep.

Newspapers in German

Newspapers from Germany