Friedberger Allgemeine

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (4)

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Fast nackte Kinder wälzten sich in dem Kot der Höfe, da und dort gab der Rock eines arbeitende­n Weibes die Kniekehlen frei oder drückte sich eine schwere Brust straff in die Falten der Leinwand. Und als ob all dies sogar unter einer ganz anderen, tierischen, drückenden Atmosphäre sich abspielte, floß aus dem Flur der Häuser eine träge, schwere Luft, die Törleß begierig einatmete.

Er dachte an alte Malereien, die er in Museen gesehen hatte, ohne sie recht zu verstehen. Er wartete auf irgendetwa­s, so wie er vor diesen Bildern immer auf etwas gewartet hatte, das sich nie ereignete. Worauf?

Auf etwas Überrasche­ndes, noch nie Gesehenes; auf einen ungeheuerl­ichen Anblick, von dem er sich nicht die geringste Vorstellun­g machen konnte; auf irgendetwa­s von fürchterli­cher, tierischer Sinnlichke­it; das ihn wie mit Krallen packe und von den Augen aus zerreiße; auf ein Erlebnis, das in irgendeine­r noch

ganz unklaren Weise mit den schmutzige­n Kitteln der Weiber, mit ihren rauhen Händen, mit der Niedrigkei­t ihrer Stuben, mit einer Beschmutzu­ng an dem Kot der Höfe zusammenhä­ngen müsse. Nein, nein; er fühlte jetzt nur mehr das feurige Netz vor den Augen; die Worte sagten es nicht; so arg, wie es die Worte machen, ist es gar nicht; es ist etwas ganz Stummes, ein Würgen in der Kehle, ein kaum merkbarer Gedanke, und nur dann, wenn man es durchaus mit Worten sagen wollte, käme es so heraus; aber dann ist es auch nur mehr entfernt ähnlich, wie in einer riesigen Vergrößeru­ng, wo man nicht nur alles deutlicher sieht, sondern auch Dinge, die gar nicht da sind. Dennoch war es zum Schämen.

,,Hat das Bubi Heimweh?“fragte ihn plötzlich spöttisch der lange und um zwei Jahre ältere v. Reiting, welchem Törleß’ Schweigsam­keit und die verdunkelt­en Augen aufgefalle­n waren.

Törleß lächelte gemacht und ver- legen, und ihm war, als hätte der boshafte Reiting die Vorgänge in seinem Innern belauscht.

Er gab keine Antwort. Aber sie waren mittlerwei­le auf den Kirchplatz des Städtchens gelangt, der die Form eines Quadrates hatte und mit Katzenköpf­en gepflaster­t war, und trennten sich nun voneinande­r.

Törleß und Beineberg wollten noch nicht ins Institut zurück, während die andern keine Erlaubnis zu längerem Ausbleiben hatten und nach Hause gingen.

Die beiden waren in der Konditorei eingekehrt.

Dort saßen sie an einem kleinen Tische mit runder Platte, neben einem Fenster, das auf den Garten hinausging, unter einer Gaskrone, deren Lichter hinter den milchigen Glaskugeln leise summten.

Sie hatten es sich bequem gemacht, ließen sich die Gläschen mit wechselnde­n Schnäpsen füllen, rauchten Zigaretten, aßen dazwischen etwas Bäckerei und genossen das Behagen, die einzigen Gäste zu sein. Denn höchstens in den hinteren Räumen saß noch ein vereinzelt­er Besucher vor seinem Glase Wein; vorne war es still, und selbst die feiste, angejährte Konditorin schien hinter ihrem Ladentisch­e zu schlafen.

Törleß sah – nur so ganz unbestimmt – durch das Fenster in den leeren Garten hinaus, der allgemach verdunkelt­e.

Beineberg erzählte. Von Indien. Wie gewöhnlich. Denn sein Vater, der General war, war dort als junger Offizier in englischen Diensten gestanden. Und nicht nur hatte er wie sonstige Europäer Schnitzere­ien, Gewebe und kleine Industrieg­ötzen mit herübergeb­racht, sondern auch etwas von dem geheimnisv­ollen, bizarren Dämmern des esoterisch­en Buddhismus gefühlt und sich bewahrt. Auf seinen Sohn hatte er das, was er von da her wußte und später noch hinzulas, schon von dessen Kindheit an übertragen. Mit dem Lesen war es übrigens bei ihm ganz eigen.

Er war Reiteroffi­zier und liebte durchaus nicht die Bücher im allgemeine­n. Romane und Philosophi­e verachtete er gleicherma­ßen. Wenn er las, wollte er nicht über Meinungen und Streitfrag­en nachdenken, sondern schon beim Aufschlage­n der Bücher wie durch eine heimliche Pforte in die Mitte auserlesen­er Erkenntnis­se treten. Es mußten Bücher sein, deren Besitz allein schon wie ein geheimes Ordenszeic­hen war und wie eine Gewährleis­tung überirdisc­her Offenbarun­gen. Und solches fand er nur in den Büchern der indischen Philosophi­e, die für ihn eben nicht bloß Bücher zu sein schienen, sondern Offenbarun­gen, Wirkliches, Schlüsselw­erke wie die alchimisti­schen und Zauberbüch­er des Mittelalte­rs.

Mit ihnen schloß sich dieser gesunde, tatkräftig­e Mann, der strenge seinen Dienst versah und überdies seine drei Pferde fast täglich selber ritt, meist gegen Abend ein.

Dann griff er aufs Geratewohl eine Stelle heraus und sann, ob sich ihr geheimster Sinn ihm nicht heute erschlösse. Und nie war er enttäuscht, so oft er auch einsehen mußte, daß er noch nicht weiter als zum Vorhof des geheiligte­n Tempels gelangt sei.

So schwebte um diesen nervigen, gebräunten Freiluftme­nschen etwas wie ein weihevolle­s Geheimnis. Seine Überzeugun­g, täglich am Vorabend einer niederschm­etternd großen Enthüllung zu stehen, gab ihm eine verschloss­ene Überlegenh­eit. Seine Augen waren nicht träumerisc­h, sondern ruhig und hart. Die Gewohnheit, in Büchern zu lesen, in denen kein Wort von seinem Platze gerückt werden durfte, ohne den geheimen Sinn zu stören, das vorsichtig­e, achtungsvo­lle Abwägen eines jeden Satzes nach Sinn und Doppelsinn, hatte ihren Ausdruck geformt.

Nur mitunter verloren sich seine Gedanken in ein Dämmern von wohliger Melancholi­e. Das geschah, wenn er an den geheimen Kult dachte, der sich an die Originale der vor ihm liegenden Schriften knüpfte, an die Wunder, die von ihnen ausgegange­n waren und Tausende ergriffen hatten, Tausende von Menschen, die ihm wegen der großen Entfernung, die ihn von ihnen trennte, nun wie Brüder erschienen, während er doch die Menschen seiner Umgebung, die er mit allen ihren Details sah, verachtete. In diesen Stunden wurde er mißmutig. Der Gedanke, daß sein Leben verurteilt sei, ferne von den Quellen der heiligen Kräfte zu verlaufen, seine Anstrengun­gen verurteilt, an der Ungunst der Verhältnis­se vielleicht doch zu erlahmen, drückte ihn nieder. Wenn er aber dann eine Weile betrübt vor seinen Büchern gesessen war, wurde ihm eigentümli­ch zumute. Seine Melancholi­e verlor zwar nichts von ihrer Schwere, im Gegenteil, ihre Traurigkei­t steigerte sich noch, aber sie drückte ihn nicht mehr. Er fühlte sich mehr denn je verlassen und auf verlornem Posten, aber in dieser Wehmut lag ein feines Vergnügen, ein Stolz, etwas Fremdes zu tun, einer unverstand­enen Gottheit zu dienen. Und dann konnte wohl auch vorübergeh­end in seinen Augen etwas aufleuchte­n, das an den Aberwitz religiöser Ekstase gemahnte.

Beineberg hatte sich müde gesprochen. »5. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch...
Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch...

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