In der Wohngruppe herrschen feste Regeln
In der Kissinger Nelkenstraße sind acht Jugendliche untergebracht, die ohne ihre Eltern nach Deutschland geflüchtet sind
Kissing Achmeds Familie lebt in Syrien inmitten von zerbombten Häusern. Dem 18-Jährigen gelang die Flucht nach Deutschland, mit seinem Handy hält er den Kontakt in die Heimat. Er macht sich große Sorgen um seine Angehörigen in dem vom Krieg zerrütteten Land. Achmed ist inzwischen in Kissing untergekommen. Zusammen mit sieben weiteren Flüchtlingen lebt er in einer Wohngruppe in der Nelkenstraße. Ulrich Lingg, Leiter von Prisma, sitzt dort am Wohnzimmertisch und erzählt von Achmeds Flucht nach Deutschland. Der Augsburger Familien- und Jugendhilfe Verein betreibt die Wohngruppe. Die Jugendlichen sind zwischen
Sie haben Angst, stigmatisiert zu werden
16 und 18 Jahre alt und stammen alle aus Afghanistan und Syrien. Die ersten sind Mitte Mai in das Haus gezogen.
Rund um die Uhr ist ein Pädagoge vor Ort – nachts schläft er in dem Haus. Ein weiterer Betreuer kommt jeden Tag von 14 bis 18 Uhr. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge obliegen der Obhut des Jugendamtes. Prisma arbeitet eng mit der Behörde in Aichach zusammen. Sie entscheidet auch, ob ein 18-Jähriger, der ja eigentlich schon volljährig ist, in der Einrichtung untergebracht werden darf.
In Kissing hatten die Pläne, die Wohngemeinschaft zu eröffnen, unter den Anwohnern in der Nelkenstraße für Unruhe gesorgt. Seitdem die Jugendlichen eingezogen sind, hat es aber laut Prisma-Leiter Lingg keine Beschwerden gegeben. Lediglich einmal klingelte das Telefon, weil einer der Flüchtlinge seit mehreren Stunden am Klavier übte. „Das war aber ein sehr nettes Gespräch“, sagt Lingg. Die Pädagogen schlossen die Tür und das Problem war gelöst. Der Prisma-Leiter sagt, dass die Nachbarn sich jederzeit melden sollen, wenn sie sich gestört fühlen. „Es lässt sich fast immer eine Lösung finden.“
Die schrecklichen Anschläge in den vergangenen Wochen haben auch die Flüchtlinge und Pädagogen in der Nelkenstraße beschäftigt. Der Attentäter in Würzburg war selbst als Asylbewerber nach Deutschland gekommen und erst 17 Jahre alt. „Die Jugendlichen waren sehr erschüttert“, sagt Lingg. Franz Keimig, ein Psychologe von Prisma, erklärt zudem: „Sie haben Angst, stigmatisiert zu werden.“Die PrismaMitarbeiter betonen, dass die Bewohner selbst vor Krieg und Terror geflüchtet sind. Zu den Forderungen von Politikern, dass Betreuer mehr auf ihre Schützlinge aufpassen sollen, sagt Lingg: „Natürlich müssen wir achtsam sein.“Er betont aber, dass Prisma in Kissing mit hohem Personalaufwand arbeitet. Für die acht Jugendlichen gibt es sechs Bezugsbetreuer und zusätzlich noch Psychologe Keimig, der stundenweise vor Ort ist.
Die Pädagogen Barbara Ludwig und Thomas Neber erklären, dass der Kontakt zu den Jugendlichen mit der Zeit sehr vertraut wird. „Das ist enorme Beziehungsarbeit“, sagt Ludwig. Die meisten Jugendlichen besuchen die Berufsschulen in Aichach und Friedberg, einer lernt tagsüber Deutsch bei einem Kurs in Augsburg. In der Wohngruppe gibt es feste Regeln. In der Woche müssen die Bewohner abends ab halb elf in ihren Zimmern sein, dann soll Ruhe einkehren. Die Jugendlichen kochen selbst und es gibt einen Putzplan. Wer sich nicht an die Regeln hält, bekommt zum Beispiel zeitweise den Zugang zum Internet entzogen. Die Pädagogen sagen, dass die Jugendlichen sehr bemüht sind, die deutsche Sprache zu lernen. Viele sind an Sport interessiert und werden bald bei Vereinen in Kissing spielen. „Im Grunde haben sie recht bürgerliche Ziele“, sagt Lingg. Arbeiten, Geld verdienen und eine Familie gründen. Einige würden auch gerne in ihr Heimatland zurückkehren, wenn dort wieder Frieden herrscht.
Achmed hat vor Kurzem die Aufnahmeprüfung für die Berufsoberschule in Augsburg bestanden. Obwohl er erst seit ein paar Monaten in Deutschland lebt, beherrscht er die Sprache bereits recht gut. Nun möchte er gerne sein Abitur machen. In Syrien stand er kurz vor einem vergleichbaren Schulabschluss, doch dann kam der Krieg.