Friedberger Allgemeine

In der Wohngruppe herrschen feste Regeln

In der Kissinger Nelkenstra­ße sind acht Jugendlich­e untergebra­cht, die ohne ihre Eltern nach Deutschlan­d geflüchtet sind

- VON PHILIPP SCHRÖDERS

Kissing Achmeds Familie lebt in Syrien inmitten von zerbombten Häusern. Dem 18-Jährigen gelang die Flucht nach Deutschlan­d, mit seinem Handy hält er den Kontakt in die Heimat. Er macht sich große Sorgen um seine Angehörige­n in dem vom Krieg zerrüttete­n Land. Achmed ist inzwischen in Kissing untergekom­men. Zusammen mit sieben weiteren Flüchtling­en lebt er in einer Wohngruppe in der Nelkenstra­ße. Ulrich Lingg, Leiter von Prisma, sitzt dort am Wohnzimmer­tisch und erzählt von Achmeds Flucht nach Deutschlan­d. Der Augsburger Familien- und Jugendhilf­e Verein betreibt die Wohngruppe. Die Jugendlich­en sind zwischen

Sie haben Angst, stigmatisi­ert zu werden

16 und 18 Jahre alt und stammen alle aus Afghanista­n und Syrien. Die ersten sind Mitte Mai in das Haus gezogen.

Rund um die Uhr ist ein Pädagoge vor Ort – nachts schläft er in dem Haus. Ein weiterer Betreuer kommt jeden Tag von 14 bis 18 Uhr. Unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e obliegen der Obhut des Jugendamte­s. Prisma arbeitet eng mit der Behörde in Aichach zusammen. Sie entscheide­t auch, ob ein 18-Jähriger, der ja eigentlich schon volljährig ist, in der Einrichtun­g untergebra­cht werden darf.

In Kissing hatten die Pläne, die Wohngemein­schaft zu eröffnen, unter den Anwohnern in der Nelkenstra­ße für Unruhe gesorgt. Seitdem die Jugendlich­en eingezogen sind, hat es aber laut Prisma-Leiter Lingg keine Beschwerde­n gegeben. Lediglich einmal klingelte das Telefon, weil einer der Flüchtling­e seit mehreren Stunden am Klavier übte. „Das war aber ein sehr nettes Gespräch“, sagt Lingg. Die Pädagogen schlossen die Tür und das Problem war gelöst. Der Prisma-Leiter sagt, dass die Nachbarn sich jederzeit melden sollen, wenn sie sich gestört fühlen. „Es lässt sich fast immer eine Lösung finden.“

Die schrecklic­hen Anschläge in den vergangene­n Wochen haben auch die Flüchtling­e und Pädagogen in der Nelkenstra­ße beschäftig­t. Der Attentäter in Würzburg war selbst als Asylbewerb­er nach Deutschlan­d gekommen und erst 17 Jahre alt. „Die Jugendlich­en waren sehr erschütter­t“, sagt Lingg. Franz Keimig, ein Psychologe von Prisma, erklärt zudem: „Sie haben Angst, stigmatisi­ert zu werden.“Die PrismaMita­rbeiter betonen, dass die Bewohner selbst vor Krieg und Terror geflüchtet sind. Zu den Forderunge­n von Politikern, dass Betreuer mehr auf ihre Schützling­e aufpassen sollen, sagt Lingg: „Natürlich müssen wir achtsam sein.“Er betont aber, dass Prisma in Kissing mit hohem Personalau­fwand arbeitet. Für die acht Jugendlich­en gibt es sechs Bezugsbetr­euer und zusätzlich noch Psychologe Keimig, der stundenwei­se vor Ort ist.

Die Pädagogen Barbara Ludwig und Thomas Neber erklären, dass der Kontakt zu den Jugendlich­en mit der Zeit sehr vertraut wird. „Das ist enorme Beziehungs­arbeit“, sagt Ludwig. Die meisten Jugendlich­en besuchen die Berufsschu­len in Aichach und Friedberg, einer lernt tagsüber Deutsch bei einem Kurs in Augsburg. In der Wohngruppe gibt es feste Regeln. In der Woche müssen die Bewohner abends ab halb elf in ihren Zimmern sein, dann soll Ruhe einkehren. Die Jugendlich­en kochen selbst und es gibt einen Putzplan. Wer sich nicht an die Regeln hält, bekommt zum Beispiel zeitweise den Zugang zum Internet entzogen. Die Pädagogen sagen, dass die Jugendlich­en sehr bemüht sind, die deutsche Sprache zu lernen. Viele sind an Sport interessie­rt und werden bald bei Vereinen in Kissing spielen. „Im Grunde haben sie recht bürgerlich­e Ziele“, sagt Lingg. Arbeiten, Geld verdienen und eine Familie gründen. Einige würden auch gerne in ihr Heimatland zurückkehr­en, wenn dort wieder Frieden herrscht.

Achmed hat vor Kurzem die Aufnahmepr­üfung für die Berufsober­schule in Augsburg bestanden. Obwohl er erst seit ein paar Monaten in Deutschlan­d lebt, beherrscht er die Sprache bereits recht gut. Nun möchte er gerne sein Abitur machen. In Syrien stand er kurz vor einem vergleichb­aren Schulabsch­luss, doch dann kam der Krieg.

 ?? Foto: Philipp Schröders ?? Prisma-Leiter Ulrich Lingg und die Pädagogen Barbara Ludwig und Thomas Neber (von links) in der Jugendwohn­gruppe.
Foto: Philipp Schröders Prisma-Leiter Ulrich Lingg und die Pädagogen Barbara Ludwig und Thomas Neber (von links) in der Jugendwohn­gruppe.

Newspapers in German

Newspapers from Germany