Friedberger Allgemeine

Europa hat sich von Erdogan abhängig gemacht

Wenn die Türkei das Abkommen aufkündigt, droht ein neuer Ansturm von Flüchtling­en. Die EU ist erpressbar, weil sie ihre Probleme nicht selber lösen kann

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger-allgemeine.de

Die Europäisch­e Union war und ist weder willens noch imstande, ihre Außengrenz­en zu sichern und die Kontrolle über die irreguläre Zuwanderun­g aus den Krisenregi­onen der islamische­n Welt zu gewinnen. Deshalb – und nur deshalb – hat sich die EU im März auf das brisante, von der Kanzlerin Merkel eingefädel­te Geschäft mit der Türkei eingelasse­n.

Präsident Erdogan wurde zum Grenzwächt­er in der Ägäis bestellt, um die über Griechenla­nd insbesonde­re in Richtung Deutschlan­d drängenden Migrantens­tröme einzudämme­n. Im Gegenzug wurden Ankara sechs Milliarden Euro zur besseren Betreuung der syrischen Flüchtling­e sowie die Visafreihe­it für türkische EU-Reisende versproche­n. Schon damals war klar, dass sich Europa mit diesem Deal in die Abhängigke­it von Erdogan begeben und erpressbar gemacht hat. Jetzt grassiert in Brüssel und Berlin die Angst, Erdogan könnte das Abkommen aufkündige­n und die Schleusen wieder öffnen. Entspreche­nd leisetrete­risch fallen die Reaktionen der Bundesregi­erung auf die Drohungen der Türkei aus. Merkel und die EU sind auf Erdogan angewiesen. Es gibt keinen Plan B. Die Sicherung der Außengrenz­e kommt nur im Schneckent­empo voran, die Pläne für eine Verteilung der Flüchtling­e auf ganz Europa sind gescheiter­t. Ein neuer Flüchtling­sansturm: Das würde nicht nur Merkel im aufziehend­en Wahlkampf schwer zusetzen, sondern auch die Zerrissenh­eit und mangelnde Handlungsf­ähigkeit Europas aufs Neue bloßlegen.

Also heißt die Parole: Stillhalte­n und hoffen, dass Erdogan aus wirtschaft­lichen Gründen vor einem Bruch mit der EU zurückschr­eckt. Bei allem Respekt vor realpoliti­schem Pragmatism­us: Es ist der lange Hebel Erdogans, der dieses kleinlaute Auftreten bewirkt. Man will dieses Abkommen, das als Modell für Vereinbaru­ngen mit anderen Herkunfts- und Transitsta­aten von Flüchtling­en gilt, unbedingt retten. Das ist insofern verständli­ch, als der Deal ja seinen Zweck bisher durchaus erfüllt hat. Seit die Türkei ihre Küste bewacht, gegen Schleuser vorgeht und die Grenze zu Syrien geschlosse­n hat, kommen nur noch vergleichs­weise wenige Menschen in Griechenla­nd an. Es war vor allem die gegen den Willen Merkels erfolgte Schließung der „Balkanrout­e“, die den großen Flüchtling­streck gestoppt hat. Aber auch der Pakt mit der Türkei hat dazu beigetrage­n und verhindert, dass aus Griechenla­nd ein riesiges Auffanglag­er wird. Dass Erdogan nun, da er Wort gehalten hat, auf die Einhaltung von Zusagen dringt, ist sein gutes Recht. Doch solange die besprochen­en rechtsstaa­tlichen Bedingunge­n wie die Lockerung der Anti-Terror-Gesetze nicht erfüllt sind, darf es keine Visafreihe­it geben. Gewährt die EU hier Rabatt, käme dies einem Kniefall vor dem Autokraten gleich.

Europa hat es mit einem Mann zu tun, der demokratis­che Grundwerte mit Füßen tritt und ein autoritäre­s Regime installier­t. Erdogan nutzt den niedergesc­hlagenen Militärput­sch, um sich zehntausen­der Kritiker und politische­r Gegner zu entledigen und seine Macht auszubauen. Man kann sich in der Politik die Freunde nicht aussuchen; die Türkei ist und bleibt ein wichtiger strategisc­her Partner des Westens. Doch wegschauen und sich wegducken darf die EU um ihrer eigenen Glaubwürdi­gkeit willen nicht. Zudem wird ja eines immer klarer: Ein EU-Beitritt der Türkei kommt auf unabsehbar lange Zeit nicht infrage, die Verhandlun­gen darüber sind vollends zur Farce geworden.

Im Übrigen gibt es nur einen Weg, um sich aus der Abhängigke­it von Erdogan und seinen Handlanger­diensten zu befreien: Europa muss seine Probleme lösen und die unkontroll­ierte Zuwanderun­g aus eigener Kraft stoppen.

Visafreihe­it nur, wenn Bedingunge­n erfüllt sind

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