Der Mann, der die Fahne tragen darf
Timo Boll duelliert sich im Tischtennis mit Kuka-Robotern und ist in China ein Superstar. Olympia in Rio hat für ihn unglücklich begonnen
Wer als Athlet auf fünf Teilnahmen bei Olympia kommen will, muss früh anfangen. Schließlich finden die Sommerspiele nur alle vier Jahre statt. Dem Tischtennisspieler Timo Boll ist das gelungen, wenn er die schwarz-rotgoldene Fahne für die deutsche Mannschaft beim Stadioneinlauf in Rio schwenkt. Bei einer Abstimmung von Fans und Athleten setzte sich der 35-Jährige durch.
Mit vier Jahren stand Boll bereits im Verein mit seinem Vater als Trainer an der Tischtennisplatte. Während andere sich Gedanken um Parties machten, bestritt er erste Partien in der Bundesliga. Und mit 19 reiste Boll zu seinen ersten Olympischen Spielen nach Sydney. Wenig später eroberte der Hesse Platz eins der Tischtennis-Weltrangliste.
Boll besiegte als junger Emporkömmling die Granden der Tischtenniswelt wie den Weißrussen Vladimir Samsonov und den Chinesen Ma Lin. Seit fast 15 Jahren hält sich der Ausnahmesportler in der Weltspitze und gilt als einer der besten Tischtennisspieler aller Zeiten. Trotzdem erreichte er in Deutschland nie die Popularität eines Michael Schuhmacher oder Dirk Nowitzki. Boll macht das auch daran fest, dass sein Sport in deutschen Medien kaum stattfindet. „Das Fernsehen räumt uns zu wenig Übertragungszeit ein“, klagte er in einem Interview mit dem Handelsblatt. Für ihn eine ungewöhnlich kritische Aussage.
Boll ist ein Sportler ohne Starallüren. Seine Worte wählt er pragmatisch und nüchtern, wie seine Spielzüge beim Tischtennis. Auf die Frage, ob er, wie seine Gegner, mit modernen Belägen und Wundermitteln an seinem Schläger experimentiert, reagiert Boll nur mit einem müden Lächeln. Trickserei passt für ihn nicht zum Tischtennis. Mit seiner Frau und seiner Tochter lebt er abseits der Öffentlichkeit. Wenn nicht gerade große Turniere wie die Olympischen Spiele anstehen. In China aber ist Timo Boll ein Superstar. Wenn er am Flughafen landet, empfangen ihn Menschenmassen. Ein Werbevideo, in dem Boll gegen einen Kuka-Roboter beim Tischtennis antrat und diesen mit letztem Einsatz bezwang, haben sich im Internet mehr als 15 Millionen Menschen angeschaut.
Auf europäischer und nationaler Ebene hat Timo Boll alle Titel abgeräumt, die es gibt. Als größten Erfolg seiner Karriere bezeichnet er die Silbermedaille, die er mit seinen Teamkollegen im Mannschaftswettbewerb im Mutterland des Tischtennis 2008 bei den Olympischen Spielen in Peking gewann.
Der ganz große Wurf blieb ihm im Einzel bisher verwehrt. Auch in Rio könnte der Weg zur Medaille für Boll schwerer nicht sein. Die Auslosung der Partien lief für ihn unglücklich. Bereits in den ersten Runden warten chinesische TopFavoriten auf den Weltranglisten-14. Aus der Ruhe bringen wird das Boll bei seinen wahrscheinlich letzten Olympischen Spielen aber gewiss nicht. René Lauer