Wird England wieder ein Patient?
Nach dem Brexit mehren sich die Anzeichen, dass die Wirtschaft Großbritanniens einbrechen könnte
London Banker machen in der Regel nicht als Wahrsager von sich reden. Doch Mark Carney dürfte sich zu seinem Leidwesen derzeit fast ein bisschen als Hellseher fühlen, auch wenn sich der Chef der britischen Notenbank in der Position befindet, sich mit allzu kühnen Prognosen zurückhalten zu können. Aber er hatte recht, als er vor Monaten ungewohnt offen warnte, Großbritannien könnte in eine Rezession rutschen, sollte es zu einem Brexit-Votum kommen. Daraufhin hagelte es scharfe Kritik. Er verbreite Horrorgeschichten, hieß es von den Austrittsbefürwortern.
Und auch wenn sich die Unternehmer auf der Insel in den vergangenen sechs Wochen relativ gelassen präsentiert haben und Außenstehende fast den Eindruck bekommen konnten, sie trotzen den Schreckensszenarien. Jetzt haben die Briten doch ein klares Signal bekommen, dass dem Land äußerst schwere Zeiten bevorstehen, schließlich hat die Bank of England den Leitzins auf ein neues Rekordtief von 0,25 Prozent gesenkt und das Programm zum Kauf von Staatsanleihen um 60 Milliarden auf 435 Milliarden Pfund, also umgerechnet rund 513 Milliarden Euro, spürbar erweitert. So soll die Konjunktur angekurbelt werden.
Die wirtschaftlichen Aussichten haben sich deutlich verschlechtert, sagt Notenbanker Carney mit Blick das Brexit-Votum, das große Unsicherheit in der Geschäftswelt ausgelöst und das Pfund Sterling massiv abgewertet hat.
Im Mittelpunkt der Diskussion steht seitdem die Frage, wie die Beziehung des Königreichs zur Europäischen Union künftig aussieht. Insbesondere der Zugang zum europäischen Binnenmarkt ist für viele Branchen von enormer Bedeutung.
Die Notenbank will in den kommenden anderthalb Jahren Unternehmensanleihen im Wert von bis zu zehn Milliarden Pfund erwerben. Überdies sollen bis zu 100 Milliarden Pfund genutzt werden, um für die Banken die Kreditvergabe an Privatleute und Firmen attraktiver zu machen. Mit dem Programm, das deutlich umfassender ausfällt als erwartet, versucht die Notenbank, einem Konjunktureinbruch entgegenzuhalten. Immerhin, der Leitzinssatz steht auf dem tiefsten Stand in der 322-jährigen Geschichte der Bank of England. Sie hatte den Zinssatz, zu dem Finanzinstitute mit Geld versorgt werden, zuletzt Anfang 2009 während den Hochzeiten der weltweiten Finanzkrise auf 0,5 Prozent gekappt. Schatzkanzler Philip Hammond begrüßt das Vorgehen der Notenbank. Er sei bereit, jeden möglichen Schritt einzuleiten, um die Wirtschaft zu unterstützen und Vertrauen zu fördern. Nach Ansicht der Bank of England verhinderten die Maßnahmen, dass das Königreich in eine Rezession abauf rutscht. Carney warnt aber, obwohl Großbritannien für das erste Halbjahr noch ein starkes Wirtschaftswachstum vorweisen kann, vor höherer Arbeitslosigkeit und fallenden Hauspreisen im nächsten Jahr.
Schon jetzt klagen Makler, viele Wohnungen und Häuser hätten sich zu Ladenhütern entwickelt. So wenige Käufer habe es zuletzt zu Zeiten der Finanzmarktkrise gegeben. Selbst im extrem teuren London sind die Preise stark gesunken. Noch vor wenigen Monaten priesen Politiker aller Parteien den anhaltenden Wirtschaftsboom auf der Insel, Großbritannien rühmte sich als die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Doch die Stimmung ist umgeschlagen, nachdem die Mehrheit der Briten am 23. Juni für den Ausstieg aus der EU gestimmt hat. So veröffentlichte vor wenigen Tagen das Londoner Forschungsinstitut Markit die Ergebnisse einer Umfrage unter Einkaufsmanagern großer Unternehmen, nach der das Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal um 0,4 Prozent schrumpfen wird. Einen solchen Rückgang hat es seit mehr als sieben Jahren nicht mehr gegeben. Die größten Kopfschmerzen
Die Notenbank setzt ein klares Signal Das schwache Pfund macht Unternehmern Sorgen
bereitet vielen Unternehmen das schwache Pfund. Beispiel Süßwarenindustrie: Zwar gehen viele Schokoriegel auf der Insel vom Band, aber Kakao wächst dort natürlich nicht, weshalb der Rohstoff importiert werden muss. Aufgrund des schwachen Pfunds ist Kakao aber für den britischen Markt innerhalb von vier Wochen seit dem Referendum um sieben Prozent teurer geworden, was sich auch im Supermarkt bemerkbar machen dürfte.
Der Preis von Schokoladentafeln, Riegeln und Pralinen könnte steigen. Während die massive Abwertung des Pfunds exportlastigen Unternehmen zugutekommt, etwa Getränkeherstellern wie zum Beispiel dem Konzern Diageo, der Whiskey exportiert, leiden Firmen, die viele Güter einführen müssen. Und sie sind deutlich in der Mehrzahl.
Das derzeitige Problem: Ob bei Computern, Smartphones, Lebensmitteln oder Textilwaren – selbst wenn Made in Britain draufsteht, stammen die Bestandteile eines Produkts häufig aus anderen Ländern.