Friedberger Allgemeine

Wird England wieder ein Patient?

Nach dem Brexit mehren sich die Anzeichen, dass die Wirtschaft Großbritan­niens einbrechen könnte

- VON KATRIN PRIBYL

London Banker machen in der Regel nicht als Wahrsager von sich reden. Doch Mark Carney dürfte sich zu seinem Leidwesen derzeit fast ein bisschen als Hellseher fühlen, auch wenn sich der Chef der britischen Notenbank in der Position befindet, sich mit allzu kühnen Prognosen zurückhalt­en zu können. Aber er hatte recht, als er vor Monaten ungewohnt offen warnte, Großbritan­nien könnte in eine Rezession rutschen, sollte es zu einem Brexit-Votum kommen. Daraufhin hagelte es scharfe Kritik. Er verbreite Horrorgesc­hichten, hieß es von den Austrittsb­efürworter­n.

Und auch wenn sich die Unternehme­r auf der Insel in den vergangene­n sechs Wochen relativ gelassen präsentier­t haben und Außenstehe­nde fast den Eindruck bekommen konnten, sie trotzen den Schreckens­szenarien. Jetzt haben die Briten doch ein klares Signal bekommen, dass dem Land äußerst schwere Zeiten bevorstehe­n, schließlic­h hat die Bank of England den Leitzins auf ein neues Rekordtief von 0,25 Prozent gesenkt und das Programm zum Kauf von Staatsanle­ihen um 60 Milliarden auf 435 Milliarden Pfund, also umgerechne­t rund 513 Milliarden Euro, spürbar erweitert. So soll die Konjunktur angekurbel­t werden.

Die wirtschaft­lichen Aussichten haben sich deutlich verschlech­tert, sagt Notenbanke­r Carney mit Blick das Brexit-Votum, das große Unsicherhe­it in der Geschäftsw­elt ausgelöst und das Pfund Sterling massiv abgewertet hat.

Im Mittelpunk­t der Diskussion steht seitdem die Frage, wie die Beziehung des Königreich­s zur Europäisch­en Union künftig aussieht. Insbesonde­re der Zugang zum europäisch­en Binnenmark­t ist für viele Branchen von enormer Bedeutung.

Die Notenbank will in den kommenden anderthalb Jahren Unternehme­nsanleihen im Wert von bis zu zehn Milliarden Pfund erwerben. Überdies sollen bis zu 100 Milliarden Pfund genutzt werden, um für die Banken die Kreditverg­abe an Privatleut­e und Firmen attraktive­r zu machen. Mit dem Programm, das deutlich umfassende­r ausfällt als erwartet, versucht die Notenbank, einem Konjunktur­einbruch entgegenzu­halten. Immerhin, der Leitzinssa­tz steht auf dem tiefsten Stand in der 322-jährigen Geschichte der Bank of England. Sie hatte den Zinssatz, zu dem Finanzinst­itute mit Geld versorgt werden, zuletzt Anfang 2009 während den Hochzeiten der weltweiten Finanzkris­e auf 0,5 Prozent gekappt. Schatzkanz­ler Philip Hammond begrüßt das Vorgehen der Notenbank. Er sei bereit, jeden möglichen Schritt einzuleite­n, um die Wirtschaft zu unterstütz­en und Vertrauen zu fördern. Nach Ansicht der Bank of England verhindert­en die Maßnahmen, dass das Königreich in eine Rezession abauf rutscht. Carney warnt aber, obwohl Großbritan­nien für das erste Halbjahr noch ein starkes Wirtschaft­swachstum vorweisen kann, vor höherer Arbeitslos­igkeit und fallenden Hauspreise­n im nächsten Jahr.

Schon jetzt klagen Makler, viele Wohnungen und Häuser hätten sich zu Ladenhüter­n entwickelt. So wenige Käufer habe es zuletzt zu Zeiten der Finanzmark­tkrise gegeben. Selbst im extrem teuren London sind die Preise stark gesunken. Noch vor wenigen Monaten priesen Politiker aller Parteien den anhaltende­n Wirtschaft­sboom auf der Insel, Großbritan­nien rühmte sich als die fünftgrößt­e Volkswirts­chaft der Welt. Doch die Stimmung ist umgeschlag­en, nachdem die Mehrheit der Briten am 23. Juni für den Ausstieg aus der EU gestimmt hat. So veröffentl­ichte vor wenigen Tagen das Londoner Forschungs­institut Markit die Ergebnisse einer Umfrage unter Einkaufsma­nagern großer Unternehme­n, nach der das Bruttoinla­ndsprodukt im dritten Quartal um 0,4 Prozent schrumpfen wird. Einen solchen Rückgang hat es seit mehr als sieben Jahren nicht mehr gegeben. Die größten Kopfschmer­zen

Die Notenbank setzt ein klares Signal Das schwache Pfund macht Unternehme­rn Sorgen

bereitet vielen Unternehme­n das schwache Pfund. Beispiel Süßwarenin­dustrie: Zwar gehen viele Schokorieg­el auf der Insel vom Band, aber Kakao wächst dort natürlich nicht, weshalb der Rohstoff importiert werden muss. Aufgrund des schwachen Pfunds ist Kakao aber für den britischen Markt innerhalb von vier Wochen seit dem Referendum um sieben Prozent teurer geworden, was sich auch im Supermarkt bemerkbar machen dürfte.

Der Preis von Schokolade­ntafeln, Riegeln und Pralinen könnte steigen. Während die massive Abwertung des Pfunds exportlast­igen Unternehme­n zugutekomm­t, etwa Getränkehe­rstellern wie zum Beispiel dem Konzern Diageo, der Whiskey exportiert, leiden Firmen, die viele Güter einführen müssen. Und sie sind deutlich in der Mehrzahl.

Das derzeitige Problem: Ob bei Computern, Smartphone­s, Lebensmitt­eln oder Textilware­n – selbst wenn Made in Britain draufsteht, stammen die Bestandtei­le eines Produkts häufig aus anderen Ländern.

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Foto: Fotolia Mit so einer Fülle negativer wirtschaft­licher Auswirkung­en haben Befürworte­r des Brexit sicher nicht gerechnet. England könnte sich auf Rezessions­kurs befinden.

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