Brandbrief
Es brennt und brennt überall. Deutschlands Postboten müssten eigentlich Thermohandschuhe tragen wie die Stahlkocher am Hochofen, weil kein Tag vergeht, an dem nicht ein ganzes Bündel Brandbriefe losgeschickt wird und zuzustellen ist. Alleine die Eingabe „Brandbrief an Merkel“entlockt der Suchmaschine Google 36 700 Treffer. Nicht alle diese Brandbriefe an die Bundeskanzlerin sind von Horst Seehofer oder der CSU. Aber jeder Einzelne ist gesättigt von tiefer Sorge, ultimativer Bitte, versteckter Drohung und großer Verzweiflung. Irgendwas brennt immer irgendwem unter den Nägeln.
Der Brandbrief als öffentlich gemachte Mahnung und Anklage, als wütender Zwischenruf und letzte Warnung, als eiliger Bittbrief und geschickte Selbstvermarktung – er lodert und glimmt nicht viel länger, als es Glühwürmchen in der Dämmerung tun. Dann geht der BB den Weg aller Brandbriefe – in die Ablage, wo es sich dann schnell hat mit der Brisanz. Jeder Liebesbrief wärmt länger. Noch jeder Brandbrief dagegen kühlt schnell auf Altpapiertemperatur herunter und wird ein erloschenes kleines Licht.
Ähnliches gilt für die kleine Schwester des Brandbriefes, die Brandrede. Auch sie, vorgetragen nicht selten mit kühlem Verstand und heißem Herzen, nutzt sich ab, je mehr Brandreden gehalten werden. Und es werden viele gehalten.
Doch zurück zum Brandbrief und einer kleinen Auswahl aktueller Beispiele, die belegen, dass es nahezu keinen Lebensbereich gibt, wo nicht Feuer unterm Dach wäre. Im Streit um die Gäubahn im Ländle hat soeben der grüne Verkehrsminister Hermann aus Baden-Württemberg einen Brandbrief an Bundesverkehrsminister Dobrindt geschrieben. Ein Bad Kötztinger Busunternehmer, der sich bei der Vergabe von Linien übergangen fühlt, verfasste ebenso einen Brandbrief wie ein paar CDUPolitiker, die in ihrem Brandbrief mehr Badespaß im Sommerbad Staaken fordern. Das schriftliche Brandmarken von Missständen und das Verfassen von Protestnoten an Ämter, Behörden, Ministerien und Obrigkeiten ist derart weit verbreitet (erwähnten wir den jüngsten Brandbrief von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz an Präsident Erdogan schon?), dass einem um die Briefkultur nicht bange sein muss. Wer aber zählt die Brandbriefe, die ihren Adressaten zwar erreicht, ihn jedoch völlig kalt gelassen haben?