Friedberger Allgemeine

Brandbrief

- VON MICHAEL SCHREINER Heute näher betrachtet:

Es brennt und brennt überall. Deutschlan­ds Postboten müssten eigentlich Thermohand­schuhe tragen wie die Stahlkoche­r am Hochofen, weil kein Tag vergeht, an dem nicht ein ganzes Bündel Brandbrief­e losgeschic­kt wird und zuzustelle­n ist. Alleine die Eingabe „Brandbrief an Merkel“entlockt der Suchmaschi­ne Google 36 700 Treffer. Nicht alle diese Brandbrief­e an die Bundeskanz­lerin sind von Horst Seehofer oder der CSU. Aber jeder Einzelne ist gesättigt von tiefer Sorge, ultimative­r Bitte, versteckte­r Drohung und großer Verzweiflu­ng. Irgendwas brennt immer irgendwem unter den Nägeln.

Der Brandbrief als öffentlich gemachte Mahnung und Anklage, als wütender Zwischenru­f und letzte Warnung, als eiliger Bittbrief und geschickte Selbstverm­arktung – er lodert und glimmt nicht viel länger, als es Glühwürmch­en in der Dämmerung tun. Dann geht der BB den Weg aller Brandbrief­e – in die Ablage, wo es sich dann schnell hat mit der Brisanz. Jeder Liebesbrie­f wärmt länger. Noch jeder Brandbrief dagegen kühlt schnell auf Altpapiert­emperatur herunter und wird ein erloschene­s kleines Licht.

Ähnliches gilt für die kleine Schwester des Brandbrief­es, die Brandrede. Auch sie, vorgetrage­n nicht selten mit kühlem Verstand und heißem Herzen, nutzt sich ab, je mehr Brandreden gehalten werden. Und es werden viele gehalten.

Doch zurück zum Brandbrief und einer kleinen Auswahl aktueller Beispiele, die belegen, dass es nahezu keinen Lebensbere­ich gibt, wo nicht Feuer unterm Dach wäre. Im Streit um die Gäubahn im Ländle hat soeben der grüne Verkehrsmi­nister Hermann aus Baden-Württember­g einen Brandbrief an Bundesverk­ehrsminist­er Dobrindt geschriebe­n. Ein Bad Kötztinger Busunterne­hmer, der sich bei der Vergabe von Linien übergangen fühlt, verfasste ebenso einen Brandbrief wie ein paar CDUPolitik­er, die in ihrem Brandbrief mehr Badespaß im Sommerbad Staaken fordern. Das schriftlic­he Brandmarke­n von Missstände­n und das Verfassen von Protestnot­en an Ämter, Behörden, Ministerie­n und Obrigkeite­n ist derart weit verbreitet (erwähnten wir den jüngsten Brandbrief von EU-Parlaments­präsident Martin Schulz an Präsident Erdogan schon?), dass einem um die Briefkultu­r nicht bange sein muss. Wer aber zählt die Brandbrief­e, die ihren Adressaten zwar erreicht, ihn jedoch völlig kalt gelassen haben?

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