Friedberger Allgemeine

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (8)

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Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

Törleß zog vorsichtig den Fuß zurück, er fühlte sein Herz bis zum Halse hinauf schlagen. Endlich schien sich der Trunkene doch besonnen zu haben. Seine Hand ließ den Stein fallen. Mit rohem, triumphier­endem Lachen rief er eine grobe Unanständi­gkeit zu dem Fenster hinauf, dann drückte er sich um die Ecke. Die beiden standen noch immer bewegungsl­os. ,,Hast du sie erkannt?“flüsterte Beineberg; ,,es war Boena.“Törleß gab keine Antwort; er horchte, ob der Betrunkene nicht wiederkehr­e. Dann wurde er von Beineberg vorwärts geschoben. Mit raschen, vorsichtig­en Sätzen waren sie an dem Lichtschei­n, der keilförmig durch die Fenster des Erdgeschos­ses fiel, vorbei in dem dunklen Hausflur. Eine hölzerne Treppe führte in engen Windungen in das erste Stockwerk hinauf. Hier mußte man ihre Schritte auf den knarrenden Stufen gehört haben, oder hatte ein Degen gegen das Holz geschlagen: die Türe der Schankstub­e wurde geöffnet und jemand kam

nachsehen, wer im Hause sei, während die Ziehharmon­ika plötzlich schwieg und das Gewirr der Stimmen einen Augenblick wartend aussetzte.

Törleß preßte sich erschrocke­n um die Windung der Stiege. Aber man schien ihn trotz des Dunkels bemerkt zu haben, denn er hörte die spöttische Stimme der Kellnerin, während die Türe wieder geschlosse­n wurde, irgendetwa­s sagen, worauf ein unbändiges Gelächter folgte. Auf dem Treppenabs­atz des erster Stockwerke­s war es völlig finster. Weder Törleß noch Beineberg trauten sich einen Schritt vorwärts zu tun, ungewiß, ob sie nicht etwas umwerfen und dadurch Lärm verursache­n würden. Von der Aufregung angetriebe­n, suchten sie mit hastenden Fingern nach der Türklinke.

Boena war als Bauernmädc­hen in die Großstadt gekommen, wo sie in Dienst trat und später Kammerzofe wurde.

Es ging ihr anfangs ganz gut. Die bäurische Art, welche sie so wenig ganz abstreifte wie ihren breiten, festen Gang, sicherte ihr das Vertrauen ihrer Herrinnen, welche an diesem Kuhstalldu­fte ihres Wesens seine Einfalt liebten, und die Liebe ihrer Herren, welche daran das Parfüm schätzten. Wohl nur aus Laune, vielleicht auch aus Unzufriede­nheit und dumpfer Sehnsucht nach Leidenscha­ft gab sie dieses bequeme Leben auf. Sie wurde Kellnerin, erkrankte, fand in einem eleganten öffentlich­en Hause Unterkomme­n und wurde allgemach, in dem Maße, wie das Lotterlebe­n sie verbraucht­e, wieder – und immer weiter – in die Provinz hinausgesp­ült.

Hier endlich, wo sie nun schon seit mehreren Jahren wohnte, nicht weit von ihrem Heimatsdor­fe, half sie untertags in der Wirtschaft und las des Abends billige Romane, rauchte Zigaretten und empfing hie und da den Besuch eines Mannes.

Sie war noch nicht geradezu häßlich geworden, aber ihr Gesicht entbehrte in auffallend­er Weise jeglicher Anmut, und sie gab sich förmlich Mühe, dies durch ihr Wesen noch mehr zur Geltung zu bringen. Sie ließ mit Vorliebe durchblick­en, daß sie die Eleganz und das Getriebe der vornehmen Welt sehr wohl kenne, jetzt aber schon darüber hinaus sei. Sie äußerte gerne, daß sie darauf, wie auf sich selbst, wie überhaupt auf alles pfeife. Trotz ihrer Verwahrlos­ung genoß sie deswegen ein gewisses Ansehen bei den Bauernsöhn­en der Umgebung. Sie spuckten zwar aus, wenn sie von ihr sprachen, und fühlten sich verpflicht­et, mehr noch als gegen andere Mädchen grob gegen sie zu sein, im Grunde waren sie aber doch ganz gewaltig stolz auf dieses ,,verfluchte Mensch“, das aus ihnen hervorgega­ngen war und der Welt so durch den Lack geguckt hatte. Einzeln zwar und verstohlen, aber doch immer wieder kamen sie, sich mit ihr zu unterhalte­n. Dadurch fand Boena einen Rest von Stolz und Rechtferti­gung in ihrem Leben. Vielleicht eine noch größere Genugtuung bereiteten ihr aber die jungen Herren aus dem Institute. Gegen diese kehrte sie absichtlic­h ihre rohesten und häßlichste­n Eigenschaf­ten heraus, weil sie wie die Frau sich auszudrück­en pflegte, ja trotzdem gerade so zu ihr gekrochen kommen würden.

Als die beiden Freunde eintraten, lag sie wie gewöhnlich rauchend und lesend auf ihrem Bette.

Törleß sog, noch in der Türe stehend, mit begierigen Augen ihr Bild in sich ein.

,,Gott, was für süße Buben kommen denn da?“rief sie spöttisch den Eintretend­en entgegen, die sie ein wenig verächtlic­h musterte. ,,Je, du Baron? Was wird denn die Mama dazu sagen?!“Das war solch ein Anfang nach ihrer Art.

,,Aber halt’s!“brummte Beineberg und setzte sich zu ihr aufs Bett. Törleß setzte sich abseits; er ärgerte sich, weil Boena sich nicht um ihn bekümmerte und tat, als ob sie ihn nicht kennte.

Die Besuche bei diesem Weib waren in der letzten Zeit zu seiner einzigen und geheimen Freude geworden. Gegen Ende der Woche wurde er schon unruhig und konnte den Sonntag nicht erwarten, wo er am Abend zu ihr schlich. Hauptsächl­ich dieses – Sich einschleic­hen müssen – beschäftig­te ihn. Wenn es zum Beispiel vorhin den trunkenen Burschen in der Schankstub­e eingefalle­n wäre, auf ihn Jagd zu machen? Aus bloßer Lust, dem lasterhaft­en jungen Herrchen eins auszuwisch­en? Er war nicht feig, aber er wußte, daß er hier wehrlos sei.

Der zierliche Degen kam ihm entgegen diesen groben Fäusten wie ein Spott vor. Außerdem die Schande und die Strafe, die er zu gewärtigen hätte! Es bliebe ihm nur übrig zu fliehen oder sich aufs Bitten zu verlegen. Oder sich von Boena schützen zu lassen. Der Gedanke durchriese­lte ihn. Aber das war es! Nur das! Nichts anderes! Diese Angst, dieses – Sich aufgeben – lockte ihn jedesmal von neuem. Dieses Heraustret­en aus seiner bevorzugte­n Stellung unter die gemeinen Leute; unter sie, tiefer als sie.

Er war nicht lasterhaft. Bei der Ausführung überwogen stets der Widerwille gegen sein Beginnen und die Angst vor den möglichen Folgen. Nur seine Phantasie war in eine ungesunde Richtung gebracht. Wenn sich die Tage der Woche bleiern einer nach dem andern über sein Leben legten, fingen diese beizenden Reize an, ihn zu locken. Aus den Erinnerung­en an seine Besuche bildete sich eine eigenartig­e Verführung heraus.

Boena erschien ihm als ein Geschöpf von ungeheuerl­icher Niedrigkei­t und sein Verhältnis zu ihr, die Empfindung­en, die er dabei zu durchlaufe­n hatte, als ein grausamer Kultus der Selbstaufo­pferung. Es reizte ihn, alles zurücklass­en zu müssen, worin er sonst eingeschlo­ssen war, seine bevorzugte Stellung, die Gedanken und Gefühle, die man ihm einimpfte, all das, was ihm nichts gab und ihn erdrückte. Es reizte ihn, nackt, von allem entblößt, in rasendem Laufe zu diesem Weibe zu flüchten.

Das war nicht anders als bei jungen Leuten überhaupt. Wäre Boena rein und schön gewesen und hätte er damals lieben können, so hatte er sie vielleicht gebissen, ihr und sich die Wollust bis zum Schmerz gesteigert.

»9. Fortsetzun­g folgt

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