Friedberger Allgemeine

Das Trauma von Bad Aibling

Weil ein Bahn-Mitarbeite­r mit dem Handy spielt und ein falsches Signal setzt, müssen zwölf Menschen sterben. Das ist sechs Monate her. Wie weit die Ermittlung­en fortgeschr­itten sind und was einen Notfallsee­lsorger tief beeindruck­t hat

- VON ANDREAS FREI UND PAUL WINTERER

Bad Aibling Als Hermann Saur am Abend jenes 9. Februars nach Hause kommt, setzt er sich sofort an den Schreibtis­ch und verfasst einen ausführlic­hen Einsatzber­icht. Dann wirft er alles in die Wäsche, was er am Leib trägt, und geht duschen. Und dann betet er. Oder wie er sagt: „Ich gebe das, was ich erlebt habe, nach oben ab.“

So macht das Hermann Saur immer, wenn er einen großen Einsatz beendet hat. Er nennt das „mein Ritual“. Es ist „mein Weg, um Abstand zu finden“. Er ist diesen Weg schon oft gegangen. Saur ist Diakon in der katholisch­en Kirche und Chef-Notfallsee­lsorger der Erzdiözese München-Freising. Er war nach dem Absturz der Germanwing­s-Maschine im März 2015 in den französisc­hen Alpen, nach den Terror-Anschlägen im November in Paris oder eben in Bad Aibling, wo er den Einsatz aller Notfallsee­lsorger koordinier­t hat. Immer ganz nah am Schicksal anderer, am Leid, am Schockzust­and, vor allem: an den Menschen. An Frauen, die ihren Mann verloren haben. An Kindern, die um ihren Vater weinen.

Saur ist da, spricht, wo es nötig ist, schweigt, wo es angebracht ist, nimmt in den Arm. Am Ende gibt er Ratschläge, wo Angehörige, Verletzte oder Augenzeuge­n in den folgenden Tagen und Wochen weitere Hilfe finden können. Etwas blumig umschreibt er seinen Job so: „Wir bauen die Brücke vom Trauma zur Trauer. Und wir haben viel Baumateria­l dabei.“

Hermann Saur, 60, zu Hause in Taufkirche­n bei München, hat mal eben an einer Autobahn-Raststätte haltgemach­t. Er ist gestern spät am Vormittag mit Frau und Hund auf dem Rückweg vom Niederrhei­n, wo er eine seiner beiden erwachsene­n Töchter besucht hat. Weil er auch für Journalist­en ein offenes Ohr hat, nimmt er sich am Handy 20 Minuten Zeit, um über sich, seine Arbeit und Bad Aibling zu reden.

Der 9. Februar also. Bei all den Unglücken, die er in seinem Beruf schon erlebt hat, bei aller Profession­alität: Welche Erinnerung hat er an diesen Zugunfall? Einen der schwersten in der Geschichte Bayerns. Der zwölf Menschen das Leben gekostet hat und nur deshalb passiert ist, weil ein Fahrdienst­leiter aus einer Unachtsamk­eit heraus eine eingleisig­e Strecke für zwei Züge gleichzeit­ig freigegebe­n hatte. Ein Augenblick lang ist Schweigen in der Leitung. Dann sagt Saur: „Beeindruck­t hat mich vor allem ein Moment.“Und beginnt zu erzählen.

Einer der Toten war bei einer Freiwillig­en Feuerwehr im Landkreis München aktiv. Weil Saur als Notfallsee­lsorger dafür zuständig ist, bitten ihn die Angehörige­n, bei der Trauerfeie­r und der anschließe­nden Beerdigung dabei zu sein. Im Gottesdien­st werden Fürbitten vorgetrage­n. Eine ist dem Fahrdienst­leiter gewidmet – ausgerechn­et jenem Mann, der mit seinem Fehlverhal­ten so viel Leid über die Familie gebracht hat. „Das“, sagt Saur, „war das Beeindruck­endste. So etwas bleibt in Erinnerung.“

Der 9. Februar. Die ersten ein, zwei Tage danach stehen im Zeichen der Opfer, der Frage, wie Angehörige diesen Schock jemals verarbeite­n sollen. Unter den Toten sind viele junge Männer – Ehemänner, Partner, Väter, Söhne. „In den Wochen danach ist die eigene Familie oft die profession­ellere Hilfe als die von außen“, sagt Saur. Was andere Opfer betrifft, Verletzte, Augenzeuge­n, hat er die Erfahrung gemacht: Bei den meisten Betroffene­n dauert es zwei bis vier Wochen, um aus den ersten Schocksymp­tomen herauszuko­mmen. „Um sagen zu können: Ich habe etwas Schrecklic­hes erlebt, aber es ist vorbei. Und es ist ein wichtiger Bestandtei­l meines Lebens, dieses schrecklic­he Unglück überlebt zu haben.“

Schon bald dreht sich das öffentlich­e Interesse, wie fast immer bei solchen Ereignisse­n. Fortan steht fast nur noch eine Frage im Raum: Wie konnte es zu diesem Unglück kommen? Und wer trägt die Verantwort­ung? Im Herbst könnte der Prozess gegen den Fahrdienst­leiter beginnen. Der Vorwurf lautet: fahrlässig­e Tötung. Das Gesetz sieht dafür eine Höchststra­fe von fünf Jahren Gefängnis vor. Was weiß man heute über den Ablauf des Unglücks?

Faschingsd­ienstag, halb sieben in der Früh. Auf der Bahnstreck­e zwischen Holzkirche­n und Rosenheim ist nicht viel los. Es sind Ferien, deshalb sitzen keine Schüler im Zug, etliche Berufspend­ler haben sich freigenomm­en. Der Fahrdienst­leiter in Bad Aibling muss in erster Linie dafür sorgen, dass sich die Züge auf der ansonsten eingleisig­en Strecke an einem Bahnhof begegnen, wo mindestens zwei Gleise sind – Alltag für den erfahrenen Mann.

Doch der Mitarbeite­r der Deutschen Bahn spielt an jenem nasskalten Morgen mit seinem Handy. Davon wohl abgelenkt, macht er einen verhängnis­vollen Fehler. Er setzt ein falsches Signal und lässt die beiden Züge zwischen Bad Aibling und Kolbermoor ungebremst aufeinande­r zurasen. Als er den Irrtum bemerkt, drückt er auch noch den falschen Alarmknopf. Das jedenfalls ergeben die Ermittlung­en.

Der Notruf erreicht die Lokführer nicht. Mit einem weithin hörbaren Knall krachen die Züge der Privatbahn Meridian kurz vor sieben ineinander. Ein Triebwagen wird aus dem Gleis geworfen, der andere bohrt sich in einen Waggon des anderen Zuges, er schlitzt ihn regelrecht auf.

Der Zusammenst­oß setzt enorme Kräfte frei. Es dauert Stunden, bis auch das letzte Opfer geborgen ist. Die erschütter­nde Bilanz: zwölf Tote und 89 Verletzte. Ihnen zu Ehren soll im Oktober ein Denkmal aufgestell­t werden, nahe der Stelle, an der die Züge ineinander­krachten. Der drei Meter hohe Eisenkolos­s ähnelt einer Eisenbahns­chiene und soll die ganze Wucht des Zusammenst­oßes symbolisie­ren.

Geschaffen hat ihn der Bildhauer Franz F. Wörle aus dem nahen Grafing bei München. Er interpreti­ert die rostige Stele als Tor. „Die Opfer haben ein Tor durchschri­tten, ein Tor vom Leben in den Tod“, sagt der Künstler. „Es ist ein Übergang in eine andere Dimension.“Wörle fühlt sich geehrt über den Auftrag, spürt aber auch Verantwort­ung. „Dadurch nehme ich intensiv an den Folgen dieses Unglücks teil.“

Das auf menschlich­es Versagen zurückgeht, wie den Ermittlern schnell klar wird. Die Technik hat einwandfre­i funktionie­rt. Schon nach wenigen Tagen sagt Oberstaats­anwalt Jürgen Branz: „Was wir momentan haben, ist ein furchtbare­s Einzelvers­agen.“Adressat ist der Fahrdienst­leiter, der ein Sondersign­al setzte, das die gleichzeit­ige Einfahrt der beiden Züge auf die eingleisig­e Strecke ermöglicht­e.

Zu dem Zeitpunkt ist der Mann auf freiem Fuß, er wird von der Bahn an einem geheimen Ort betreut. Der Mitarbeite­r soll sicher sein vor möglicher Selbstjust­iz in einer emotional aufgeladen­en Situation. Bahn-Manager berichten indessen, Hinterblie­bene der Todesopfer hätten geschriebe­n, dass ihnen bei aller Trauer um ihre Liebsten der Fahrdienst­leiter leidtue – trotz seines fatalen Fehlers.

Zwei Monate später. Beim Auslesen der Daten auf dem beschlagna­hmten Smartphone des Fahrdienst­leiters stellen die Ermittler fest, dass der Mann vor dem Unfall auf seinem Handy spielte. Der Ermittlung­srichter schickt den 39-Jährigen in Untersuchu­ngshaft. Aus Mitleid wird Wut auf den Bahn-Mitarbeite­r.

Schließlic­h erhebt die Staatsanwa­ltschaft Traunstein Anklage gegen den Mann im Stellwerk. Der Vorwurf lautet: fahrlässig­e Tötung in zwölf Fällen und fahrlässig­e Körperverl­etzung in 89 Fällen. Es bestehe der Verdacht, „dass der Fahrdienst­leiter entgegen einem bestehende­n Verbot im Dienst bis unmittelba­r vor der Kollision der Züge durch die Nutzung eines OnlineComp­uterspiels abgelenkt war“. Der Prozess wird zeigen, ob sich dies alles bestätigt. Wann genau die juristisch­e Aufarbeitu­ng beginnt, steht noch nicht fest.

Ob die seelische, die emotionale Aufarbeitu­ng jemals enden wird? Auch die beim Unglück eingesetzt­en Helfer haben Traumatisc­hes erlebt. Gleich nach der Katastroph­e wurden Therapien angeboten. „Es ist bewältigt“, sagt der Aiblinger Feuerwehrk­ommandant Wolfram Höfler. Und doch hat ein Feuerwehrm­ann den Dienst quittiert. Der 26-Jährige wurde trotz intensiver psychologi­scher Betreuung mit den Erlebnisse­n nicht fertig.

Bleibt eine letzte Frage: Wie geht ein Notfallsee­lsorger selbst damit um? Für Leute wie Hermann Saur gibt es regelmäßig spezielle Beratungsa­ngebote, sogenannte Supervisio­nen, wo die eigene Arbeit hinterfrag­t wird. Doch bei aller Routine: Er ist auch nur ein Mensch. Und hat gerade erst wieder beim Amoklauf von München in die Abgründe des menschlich­en Leids geschaut. „Sagen wir es so“, antwortet Saur am Ende des Telefonats. „Ich bin jetzt 60. Bisher habe ich alle Einsätze so weit verarbeite­t, dass ich davon nachts keine Albträume hatte.“Und wenn diese irgendwann kommen sollten? „Dann müsste ich darüber nachdenken, doch noch etwas anderes zu machen.“

„Es ist ein Übergang in eine andere Dimension.“Künstler Franz F. Wörle darüber, was sein Denkmal ausdrücken soll „In den Wochen danach ist die eigene Familie oft die profession­ellere Hilfe.“Notfallsee­lsorger Hermann Saur über die Trauerarbe­it von Angehörige­n

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Archivfoto: Peter Kneffel, dpa Von einem „furchtbare­n Einzelvers­agen“spricht die Staatsanwa­ltschaft schon wenige Tage nach dem Zugunglück von Bad Aibling. Im Herbst könnte der Prozess gegen den verantwort­lichen Fahrdienst­leiter beginnen.
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Foto: Uwe Lein, dpa Fühlt sich geehrt: Bildhauer Franz F. Wörle.
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Foto: Saur Fühlt sich in der Pflicht: Notfallsee­lsorger Hermann Saur.

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