Das Trauma von Bad Aibling
Weil ein Bahn-Mitarbeiter mit dem Handy spielt und ein falsches Signal setzt, müssen zwölf Menschen sterben. Das ist sechs Monate her. Wie weit die Ermittlungen fortgeschritten sind und was einen Notfallseelsorger tief beeindruckt hat
Bad Aibling Als Hermann Saur am Abend jenes 9. Februars nach Hause kommt, setzt er sich sofort an den Schreibtisch und verfasst einen ausführlichen Einsatzbericht. Dann wirft er alles in die Wäsche, was er am Leib trägt, und geht duschen. Und dann betet er. Oder wie er sagt: „Ich gebe das, was ich erlebt habe, nach oben ab.“
So macht das Hermann Saur immer, wenn er einen großen Einsatz beendet hat. Er nennt das „mein Ritual“. Es ist „mein Weg, um Abstand zu finden“. Er ist diesen Weg schon oft gegangen. Saur ist Diakon in der katholischen Kirche und Chef-Notfallseelsorger der Erzdiözese München-Freising. Er war nach dem Absturz der Germanwings-Maschine im März 2015 in den französischen Alpen, nach den Terror-Anschlägen im November in Paris oder eben in Bad Aibling, wo er den Einsatz aller Notfallseelsorger koordiniert hat. Immer ganz nah am Schicksal anderer, am Leid, am Schockzustand, vor allem: an den Menschen. An Frauen, die ihren Mann verloren haben. An Kindern, die um ihren Vater weinen.
Saur ist da, spricht, wo es nötig ist, schweigt, wo es angebracht ist, nimmt in den Arm. Am Ende gibt er Ratschläge, wo Angehörige, Verletzte oder Augenzeugen in den folgenden Tagen und Wochen weitere Hilfe finden können. Etwas blumig umschreibt er seinen Job so: „Wir bauen die Brücke vom Trauma zur Trauer. Und wir haben viel Baumaterial dabei.“
Hermann Saur, 60, zu Hause in Taufkirchen bei München, hat mal eben an einer Autobahn-Raststätte haltgemacht. Er ist gestern spät am Vormittag mit Frau und Hund auf dem Rückweg vom Niederrhein, wo er eine seiner beiden erwachsenen Töchter besucht hat. Weil er auch für Journalisten ein offenes Ohr hat, nimmt er sich am Handy 20 Minuten Zeit, um über sich, seine Arbeit und Bad Aibling zu reden.
Der 9. Februar also. Bei all den Unglücken, die er in seinem Beruf schon erlebt hat, bei aller Professionalität: Welche Erinnerung hat er an diesen Zugunfall? Einen der schwersten in der Geschichte Bayerns. Der zwölf Menschen das Leben gekostet hat und nur deshalb passiert ist, weil ein Fahrdienstleiter aus einer Unachtsamkeit heraus eine eingleisige Strecke für zwei Züge gleichzeitig freigegeben hatte. Ein Augenblick lang ist Schweigen in der Leitung. Dann sagt Saur: „Beeindruckt hat mich vor allem ein Moment.“Und beginnt zu erzählen.
Einer der Toten war bei einer Freiwilligen Feuerwehr im Landkreis München aktiv. Weil Saur als Notfallseelsorger dafür zuständig ist, bitten ihn die Angehörigen, bei der Trauerfeier und der anschließenden Beerdigung dabei zu sein. Im Gottesdienst werden Fürbitten vorgetragen. Eine ist dem Fahrdienstleiter gewidmet – ausgerechnet jenem Mann, der mit seinem Fehlverhalten so viel Leid über die Familie gebracht hat. „Das“, sagt Saur, „war das Beeindruckendste. So etwas bleibt in Erinnerung.“
Der 9. Februar. Die ersten ein, zwei Tage danach stehen im Zeichen der Opfer, der Frage, wie Angehörige diesen Schock jemals verarbeiten sollen. Unter den Toten sind viele junge Männer – Ehemänner, Partner, Väter, Söhne. „In den Wochen danach ist die eigene Familie oft die professionellere Hilfe als die von außen“, sagt Saur. Was andere Opfer betrifft, Verletzte, Augenzeugen, hat er die Erfahrung gemacht: Bei den meisten Betroffenen dauert es zwei bis vier Wochen, um aus den ersten Schocksymptomen herauszukommen. „Um sagen zu können: Ich habe etwas Schreckliches erlebt, aber es ist vorbei. Und es ist ein wichtiger Bestandteil meines Lebens, dieses schreckliche Unglück überlebt zu haben.“
Schon bald dreht sich das öffentliche Interesse, wie fast immer bei solchen Ereignissen. Fortan steht fast nur noch eine Frage im Raum: Wie konnte es zu diesem Unglück kommen? Und wer trägt die Verantwortung? Im Herbst könnte der Prozess gegen den Fahrdienstleiter beginnen. Der Vorwurf lautet: fahrlässige Tötung. Das Gesetz sieht dafür eine Höchststrafe von fünf Jahren Gefängnis vor. Was weiß man heute über den Ablauf des Unglücks?
Faschingsdienstag, halb sieben in der Früh. Auf der Bahnstrecke zwischen Holzkirchen und Rosenheim ist nicht viel los. Es sind Ferien, deshalb sitzen keine Schüler im Zug, etliche Berufspendler haben sich freigenommen. Der Fahrdienstleiter in Bad Aibling muss in erster Linie dafür sorgen, dass sich die Züge auf der ansonsten eingleisigen Strecke an einem Bahnhof begegnen, wo mindestens zwei Gleise sind – Alltag für den erfahrenen Mann.
Doch der Mitarbeiter der Deutschen Bahn spielt an jenem nasskalten Morgen mit seinem Handy. Davon wohl abgelenkt, macht er einen verhängnisvollen Fehler. Er setzt ein falsches Signal und lässt die beiden Züge zwischen Bad Aibling und Kolbermoor ungebremst aufeinander zurasen. Als er den Irrtum bemerkt, drückt er auch noch den falschen Alarmknopf. Das jedenfalls ergeben die Ermittlungen.
Der Notruf erreicht die Lokführer nicht. Mit einem weithin hörbaren Knall krachen die Züge der Privatbahn Meridian kurz vor sieben ineinander. Ein Triebwagen wird aus dem Gleis geworfen, der andere bohrt sich in einen Waggon des anderen Zuges, er schlitzt ihn regelrecht auf.
Der Zusammenstoß setzt enorme Kräfte frei. Es dauert Stunden, bis auch das letzte Opfer geborgen ist. Die erschütternde Bilanz: zwölf Tote und 89 Verletzte. Ihnen zu Ehren soll im Oktober ein Denkmal aufgestellt werden, nahe der Stelle, an der die Züge ineinanderkrachten. Der drei Meter hohe Eisenkoloss ähnelt einer Eisenbahnschiene und soll die ganze Wucht des Zusammenstoßes symbolisieren.
Geschaffen hat ihn der Bildhauer Franz F. Wörle aus dem nahen Grafing bei München. Er interpretiert die rostige Stele als Tor. „Die Opfer haben ein Tor durchschritten, ein Tor vom Leben in den Tod“, sagt der Künstler. „Es ist ein Übergang in eine andere Dimension.“Wörle fühlt sich geehrt über den Auftrag, spürt aber auch Verantwortung. „Dadurch nehme ich intensiv an den Folgen dieses Unglücks teil.“
Das auf menschliches Versagen zurückgeht, wie den Ermittlern schnell klar wird. Die Technik hat einwandfrei funktioniert. Schon nach wenigen Tagen sagt Oberstaatsanwalt Jürgen Branz: „Was wir momentan haben, ist ein furchtbares Einzelversagen.“Adressat ist der Fahrdienstleiter, der ein Sondersignal setzte, das die gleichzeitige Einfahrt der beiden Züge auf die eingleisige Strecke ermöglichte.
Zu dem Zeitpunkt ist der Mann auf freiem Fuß, er wird von der Bahn an einem geheimen Ort betreut. Der Mitarbeiter soll sicher sein vor möglicher Selbstjustiz in einer emotional aufgeladenen Situation. Bahn-Manager berichten indessen, Hinterbliebene der Todesopfer hätten geschrieben, dass ihnen bei aller Trauer um ihre Liebsten der Fahrdienstleiter leidtue – trotz seines fatalen Fehlers.
Zwei Monate später. Beim Auslesen der Daten auf dem beschlagnahmten Smartphone des Fahrdienstleiters stellen die Ermittler fest, dass der Mann vor dem Unfall auf seinem Handy spielte. Der Ermittlungsrichter schickt den 39-Jährigen in Untersuchungshaft. Aus Mitleid wird Wut auf den Bahn-Mitarbeiter.
Schließlich erhebt die Staatsanwaltschaft Traunstein Anklage gegen den Mann im Stellwerk. Der Vorwurf lautet: fahrlässige Tötung in zwölf Fällen und fahrlässige Körperverletzung in 89 Fällen. Es bestehe der Verdacht, „dass der Fahrdienstleiter entgegen einem bestehenden Verbot im Dienst bis unmittelbar vor der Kollision der Züge durch die Nutzung eines OnlineComputerspiels abgelenkt war“. Der Prozess wird zeigen, ob sich dies alles bestätigt. Wann genau die juristische Aufarbeitung beginnt, steht noch nicht fest.
Ob die seelische, die emotionale Aufarbeitung jemals enden wird? Auch die beim Unglück eingesetzten Helfer haben Traumatisches erlebt. Gleich nach der Katastrophe wurden Therapien angeboten. „Es ist bewältigt“, sagt der Aiblinger Feuerwehrkommandant Wolfram Höfler. Und doch hat ein Feuerwehrmann den Dienst quittiert. Der 26-Jährige wurde trotz intensiver psychologischer Betreuung mit den Erlebnissen nicht fertig.
Bleibt eine letzte Frage: Wie geht ein Notfallseelsorger selbst damit um? Für Leute wie Hermann Saur gibt es regelmäßig spezielle Beratungsangebote, sogenannte Supervisionen, wo die eigene Arbeit hinterfragt wird. Doch bei aller Routine: Er ist auch nur ein Mensch. Und hat gerade erst wieder beim Amoklauf von München in die Abgründe des menschlichen Leids geschaut. „Sagen wir es so“, antwortet Saur am Ende des Telefonats. „Ich bin jetzt 60. Bisher habe ich alle Einsätze so weit verarbeitet, dass ich davon nachts keine Albträume hatte.“Und wenn diese irgendwann kommen sollten? „Dann müsste ich darüber nachdenken, doch noch etwas anderes zu machen.“
„Es ist ein Übergang in eine andere Dimension.“Künstler Franz F. Wörle darüber, was sein Denkmal ausdrücken soll „In den Wochen danach ist die eigene Familie oft die professionellere Hilfe.“Notfallseelsorger Hermann Saur über die Trauerarbeit von Angehörigen