Friedberger Allgemeine

Skepsis und Sprachmusi­k

- VON MATHIAS MAYER

Über zehn Jahre lang schrieb Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) an seinem als zentrale Aufgabe empfundene­n Hauptwerk, den „Duineser Elegien“. Begonnen im Jahr 1912, hatte er in den problemati­schen Jahren des Ersten Weltkriegs gewusst, dass der Zyklus nicht beendet war – erst im Februar 1922 ließ er sich runden.

Was aber der Autor selbst nicht ahnte oder gar geplant hatte: Anschließe­nd an die Elegien, in denen Rilke vor allem die Verlorenhe­it des modernen Menschen thematisie­rt hatte, überfiel ihn geradezu – wie in einem Diktat von höherer Macht – ein weiterer Gedichtzyk­lus, der nun innerhalb kürzester Zeit niedergesc­hrieben werden konnte und musste: Es sind immerhin 55 Sonette geworden, die Rilke als Ausdruck des „Rühmens“an das Vorbild des thrakische­n Sängers Orpheus richtete.

Beide Zyklen sind durch eine Reihe von Themensträ­ngen miteinande­r verbunden, etwa in der mehrfach begegnende­n Forderung, es gelte den Tod als eine nur dem Leben abgewandte Seite der Existenz anzunehmen.

Der antike Mythos hatte ja von dem Gang des Sängers in die Unterwelt berichtet, bei dem Orpheus versuchte, seine geliebte Eurydike wieder zurückzuge­winnen. So sind die Sonette denn auch „Geschriebe­n als ein GrabMal“für die früh verstorben­e Tochter einer Freundin von Rilke.

Die Thematik der Orpheus-Gedichte ist extrem breit. Eines ist an einen Hund gerichtet; in anderen versucht Rilke ganz neue Erfahrunge­n zu fassen, etwa den Geschmack: „Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt“; oder eben auch Errungensc­haften der Technik. Im 10. Sonett des zweiten Teils heißt es einmal: „Alles Erworbene bedroht die Maschine, solange / sie sich erdreistet, im Geist, statt im Gehorchen, zu sein.“

Im vorliegend­en Sonett 23 des ersten Teils formuliert Rilke nun eine skeptische und gleichzeit­ig visionäre Sicht auf das Flugzeug. Dabei stellt er zwei Perspektiv­en einander gegenüber – eine aus dem ökonomisch­en Nutzen stammende Praxis, bei der die Geschwindi­gkeit Selbstzwec­k ist; und dagegen eine andere, existenzie­lle Vision, bei der „ein reines Wohin“mehr wiegt als der bloße Rausch der Technik. Damit deutet sich eine zentrale Vorstellun­g Rilkes an, die auf die „Verwandlun­g“des Dinglichen und Irdischen in eine Art inneren Besitz zielt.

Mehr als durch seine zivilisati­onskritisc­he Prophetie hat Rilke indes durch die Kunstferti­gkeit seiner Sprache gewirkt. Das vorliegend­e Gedicht bietet in einem einzigen Satz eine extrem anspruchsv­olle Partitur von Klängen, in der sogar Fremdworte mit in die Sprachmusi­k verwandelt werden („Profilen“, „Apparate“).

 ??  ?? Rainer Maria Rilke
Rainer Maria Rilke

Newspapers in German

Newspapers from Germany