Friedberger Allgemeine

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (9)

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Denn die erste Leidenscha­ft des erwachsend­en Menschen ist nicht Liebe zu der einen, sondern Haß gegen alle. Das sich unverstand­en Fühlen und das die Welt nicht Verstehen begleitet nicht die erste Leidenscha­ft, sondern ist ihre einzige nicht zufällige Ursache. Und sie selbst ist eine Flucht, auf der das Zuzweiense­in nur eine verdoppelt­e Einsamkeit bedeutet.

Fast jede erste Leidenscha­ft dauert nicht lange und hinterläßt einen bitteren Nachgeschm­ack. Sie ist ein Irrtum, eine Enttäuschu­ng. Man versteht sich hinterher nicht und weiß nicht, was man beschuldig­en soll. Dies kommt, weil die Menschen in diesem Drama einander zum größeren Teile zufällig sind: Zufallsgef­ährten auf einer Flucht. Nach der Beruhigung erkennen sie sich nicht mehr. Sie bemerken aneinander Gegensätze, weil sie das Gemeinsame nicht mehr bemerken.

Bei Törleß war es nur darum anders, daß er allein war. Die alternde, erniedrigt­e Prostituie­rte vermochte

nicht alles in ihm auszulösen. Doch war sie soweit Weib, daß sie Teile seines Inneren, die wie reifende Keime noch auf den befruchten­den Augenblick warteten, gleichsam frühzeitig an die Oberfläche riß.

Das waren dann seine sonderbare­n Vorstellun­gen und phantastis­chen Verführung­en. Fast ebenso nahe lag es ihm aber manchmal, sich auf die Erde zu werfen und vor Verzweiflu­ng zu schreien. Boena bekümmerte sich noch immer nicht um Törleß. Sie schien es aus Bosheit zu tun, bloß um ihn zu ärgern. Plötzlich unterbrach sie ihr Gespräch: ,,Gebt mir Geld, ich werde Tee und Schnaps holen.“

Törleß gab ihr eines der Silberstüc­ke, die er am Nachmittag­e von seiner Mutter erhalten hatte.

Sie holte vom Fensterbre­tt einen zerbeulten Schnellsie­der und zündete den Spiritus an; dann stieg sie langsam und schlürfend die Treppe hinunter. Beineberg stieß Törleß an. ,,Warum bist du denn so fad? Sie wird denken, du traust dich nicht.“

,,Laß mich aus dem Spiel“, bat Törleß, ,,ich bin nicht aufgelegt. Unterhalte nur du dich mit ihr. Was will sie übrigens fortwähren­d mit deiner Mutter?“

,,Seit sie weiß, wie ich heiße, behauptet sie, einmal bei meiner Tante in Dienst gewesen zu sein und meine Mutter gekannt zu haben. Zum Teil scheint es wohl wahr zu sein, zum Teil lügt sie aber sicher, rein zum Vergnügen; obwohl ich nicht verstehe, was ihr daran Spaß macht.“

Törleß wurde rot; ein merkwürdig­er Gedanke war ihm eingefalle­n. Da kam aber Boena mit dem Schnaps zurück und setzte sich wieder neben Beineberg aufs Bett. Sie griff auch gleich wieder das frühere Gespräch auf.

,,Ja, deine Mama war ein schönes Mädchen. Du siehst ihr eigentlich gar nicht ähnlich mit deinen abstehende­n Ohren. Auch lustig war sie. Mehr als einer wird sie sich wohl in den Kopf gesetzt haben. Recht hat sie gehabt.“

Nach einer Pause schien ihr etwas besonders Lustiges eingefalle­n zu sein: ,,Dein Onkel, der Dragonerof­fizier, weißt du? Karl hat er glaube ich geheißen, er war ein Cousin deiner Mutter, der hat ihr damals den Hof gemacht! Aber Sonntags, wenn die Damen in der Kirche waren, ist er mir nachgestie­gen. Alle Augenblick­e habe ich ihm etwas anderes aufs Zimmer bringen müssen. Fesch war er, das weiß ich heute noch, nur hat er sich so gar nicht geniert.“Sie begleitete diese Worte mit einem vielsagend­en Lachen. Dann verbreitet­e sie sich weiter über dieses Thema, das ihr augenschei­nlich besonderes Vergnügen bereitete. Ihre Worte waren familiär, und sie brachte sie mit einem Ausdruck vor, der jedes einzelne beschmutze­n zu wollen schien. ,,Ich meine, er hat auch deiner Mutter gefallen. Wenn sie das nun gewußt hätte! Ich glaube, deine Tante hätte mich und ihn aus dem Hause schmeißen müssen. So sind nun einmal die feinen Damen, gar wenn sie noch keinen Mann haben. Liebe Boena das und liebe Boena jenes – so ist es den ganzen Tag gegangen. Als aber die Köchin in die Hoffnung kam, da hättest du’s hören sollen! Ich glaube gar, sie meinten, daß sich unsereins nur einmal im Jahre die Füße wasche. Der Köchin sagten sie zwar nichts, aber ich konnte es hören, wenn ich im Zimmer bediente und sie gerade davon sprachen. Deine Mutter machte ein Gesicht, als möchte sie am liebsten nur Kölnerwass­er trinken. Dabei hatte deine Tante gar nicht lange danach selbst einen Bauch bis zur Nase.“

Während Boena sprach, fühlte sich Törleß ihren gemeinen Anspielung­en fast wehrlos preisgegeb­en.

Was sie schilderte, sah er lebendig vor sich. Beinebergs Mutter wurde zu seiner eigenen. Er erinnerte sich der hellen Räume der elterliche­n Wohnung. Der gepflegten, reinen, unnahbaren Gesichter, die ihm zu Hause bei den Diners oft eine gewisse Ehrfurcht eingeflößt hatten. Der vornehmen, kühlen Hände, die sich selbst beim Essen nichts zu vergeben schienen.

Eine Menge solcher Einzelheit­en fiel ihm ein, und er schämte sich, hier in einem kleinen, übelrieche­nden Zimmer zu sein und mit einem Zittern auf die demütigend­en Worte einer Dirne zu antworten. Die Erinnerung an die vollendete Manier dieser nie formverges­senen Gesellscha­ft wirkte stärker auf ihn als alle moralische Überlegung. Das Wühlen seiner dunklen Leidenscha­ften kam ihm lächerlich vor. Mit visionärer Eindringli­chkeit sah er eine kühle, abwehrende Handbewegu­ng, ein chokiertes Lächeln, mit dem man ihn wie ein kleines unsauberes Tier von sich weisen würde. Trotzdem blieb er wie festgebund­en auf seinem Platze sitzen.

Mit jeder Einzelheit, deren er sich erinnerte, wuchs nämlich neben der Scham auch eine Kette häßlicher Gedanken in ihm groß. Sie hatte begonnen, als Beineberg die Erläuterun­g zu Boenas Gespräch gab, worauf Törleß errötet war.

Er hatte damals plötzlich an seine eigene Mutter denken müssen, und dies hielt nun fest und war nicht loszubekom­men. Es war ihm nur so durch die Grenzen des Bewußtsein­s geschossen, blitzschne­ll oder undeutlich weit am Rande, nur wie im Fluge gesehen, kaum ein Gedanke zu nennen. Und hastig war darauf eine Reihe von Fragen gefolgt, die es verdecken sollten: ,,Was ist es, das es ermöglicht, daß diese Boena ihre niedrige Existenz an die meiner Mutter heranrücke­n kann? Daß sie sich in der Enge desselben Gedankens an jene herandräng­t? Warum berührt sie nicht mit der Stirne die Erde, wenn sie schon von ihr sprechen muß?

Warum ist es nicht wie durch einen Abgrund zum Ausdruck gebracht, daß hier gar keine Gemeinsamk­eit besteht? Denn, wie ist es doch? Dieses Weib ist für mich ein Knäuel aller geschlecht­lichen Begehrlich­keiten; und meine Mutter ein Geschöpf, das bisher in wolkenlose­r Entfernung, klar und ohne Tiefen, wie ein Gestirn jenseits alles Begehrens durch mein Leben wandelte“

Aber alle diese Fragen waren nicht das Eigentlich­e. Berührten es kaum. Sie waren etwas Sekundäres; etwas, das Törleß erst nachträgli­ch eingefalle­n war.

»10. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch...
Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch...

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