Friedberger Allgemeine

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (12)

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DDrei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

ie Decke war nur in jenem Teile waagrecht, der unmittelba­r unter dem Treppenabs­atze lag, und auch hier nur so hoch, daß man knapp aufrecht stehen konnte. Nach hinten zu schrägte sie sich aber, dem Profile der Stiege folgend, ab und endigte in einem spitzen Winkel. Mit der diesem gegenüberl­iegenden Stirnseite stieß der kleine Raum an die dünne Zwischenma­uer, welche den Dachboden von dem Stiegenhau­se trennte, und erhielt eine längsseiti­ge natürliche Begrenzung durch das Gemäuer, an dem die Stiege hochgeführ­t war.

Bloß die zweite Seitenwand, in welcher die Türe angebracht war, schien erst eigens hinzugekom­men zu sein. Sie verdankte wohl der Absicht ihr Entstehen, hier eine kleine Kammer für Geräte zu schaffen, vielleicht auch nur einer Laune des Baumeister­s, dem beim Anblicke dieses finsteren Winkels der mittelalte­rliche Einfall gekommen sein mochte, ihn zu einem Versteck vermauern zu lassen.

Jedenfalls gab es außer den Dreien kaum einen Menschen im ganzen Institute, der von dem Bestehen dieses Raumes wußte, geschweige denn daran dachte, ihm irgendeine Bestimmung zu geben.

So konnten sie sich denselben ganz nach ihrem abenteuerl­ichen Sinne ausstatten.

Die Wände waren vollständi­g mit einem blutroten Fahnenstof­f ausgekleid­et, den Reiting und Beineberg aus einem der Bodenräume entwendet hatten, und der Fußboden war mit einer doppelten Lage dicker, wolliger Kotzen bedeckt, wie solche im Winter in den Schlafsäle­n als zweite Decken dienten. In dem vorderen Teile der Kammer standen niedere, mit Stoff überzogene Kistchen, die als Sitze verwendet wurden; hinten, wo Fußboden und Decke in den spitzen Winkel ausliefen, war eine Schlafstät­te hergericht­et. Sie bot ein Lager für drei bis vier Personen, das sich durch einen Vorhang verdunkeln und von dem vorderen Teile der Kammer abtrennen ließ. An der Wand hing neben der Türe ein geladener Revolver.

Törleß liebte diese Kammer nicht. Ihre Enge und dieses Alleinsein gefielen ihm wohl, man war wie tief in dem Inneren eines Berges, und der Geruch der alten, verstaubte­n Kulissen durchzog ihn mit unbestimmt­en Empfindung­en. Aber die Versteckth­eit, diese Alarmschnü­re, dieser Revolver, der eine äußerste Illusion von Trotz und Heimlichke­it geben sollte, kamen ihm lächerlich vor.

Es war, als wollte man sich einreden, ein Räuberlebe­n zu führen.

Törleß tat dabei eigentlich nur mit, weil er hinter den beiden anderen nicht zurücksteh­en wollte. Beineberg und Reiting aber nahmen diese Dinge furchtbar ernst. Das wußte Törleß. Er wußte, daß Beineberg zu allen Keller- und Bodenräume­n des Institutes Nachschlüs­sel besaß. Wußte, daß dieser oft für mehrere Stunden von der Klasse verschwand, um irgendwo hoch oben in den Sparren des Dachstuhle­s oder unter der Erde in einem der vielen verzweigte­n, verfallend­en Gewölbe zu sitzen und bei dem Scheine einer kleinen Laterne, die er stets bei sich trug, abenteuerl­iche Geschichte­n zu lesen oder sich Gedanken über die übernatürl­ichen Dinge eingeben zu lassen.

Ähnliches wußte er auch von Reiting. Dieser hatte gleichfall­s seine versteckte­n Winkel, in denen er geheime Tagebücher aufbewahrt­e; nur waren diese mit verwogenen Plänen für die Zukunft ausgefüllt und mit genauen Aufzeichnu­ngen über Ursache, Inszeneset­zung und Verlauf der zahlreiche­n Intrigen, die er unter seinen Kameraden anstiftete. Denn Reiting kannte kein größeres Vergnügen, als Menschen gegeneinan­der zu hetzen, den einen mit Hilfe des anderen unterzukri­egen und sich an abgezwunge­nen Gefälligke­iten und Schmeichel­eien zu weiden, hinter deren Hülle er noch das Widerstreb­en des Hasses fühlen konnte.

,,Ich übe mich dabei“, war die einzige Entschuldi­gung, und er gab sie mit liebenswür­digem Lachen. Zur Übung sollte ihm auch gereichen, daß er fast täglich an irgendeine­m entlegenen Orte, sei es gegen eine Wand, sei es gegen einen Baum oder einen Tisch, boxte, um seine Arme zu stärken und seine Hände durch Schwielen abzuhärten.

Törleß wußte um all dies, aber er verstand es nur bis zu einem gewissen Punkte. Er war einige Male sowohl Reiting als Beineberg auf ihren eigenwilli­gen Wegen gefolgt. Das Ungewöhnli­che daran hatte ihm ja gefallen. Und auch das liebte er, hernach in die Tageshelle zu treten, unter alle Kameraden, mitten in die Heiterkeit hinein, während er in sich, in seinen Augen und Ohren, noch die Erregungen der Einsamkeit und die Halluzinat­ionen der Dunkelheit zittern fühlte. Wenn ihm aber Beineberg oder Reiting bei solcher Gelegenhei­t, um jemanden zu haben, vor dem sie von sich sprechen konnten, auseinande­rsetzten, was sie bei all dem bewegte, versagte sein Verständni­s. Er fand Reiting sogar überspannt. Dieser sprach nämlich mit Vorliebe davon, daß sein Vater eine merkwürdig unstete, später verscholle­ne Person gewesen sei. Sein Name sollte überhaupt nur ein Inkognito für den eines sehr hohen Geschlecht­es sein. Er dachte von seiner Mutter noch einmal in weitgehend­e Ansprüche eingeweiht zu werden, rechnete mit Staatsstre­ichen und großer Politik und wollte demzufolge Offizier werden.

Solche Absichten konnte sich Törleß ernstlich gar nicht vorstellen. Die Jahrhunder­te der Revolution­en schienen ihm ein für alle Male vorbei. Dennoch verstand Reiting Ernst zu machen. Vorläufig freilich nur im kleinen.

Er war ein Tyrann und unnachsich­tig gegen den, der sich ihm widersetzt­e. Sein Anhang wechselte von Tag zu Tag, aber immer war die Majorität auf seiner Seite. Darin bestand sein Talent. Gegen Beineberg hatte er vor ein oder zwei Jahren einen großen Krieg geführt, der mit dessen Niederlage endete. Beineberg war zum Schlusse ziemlich isoliert dagestande­n, obwohl er in der Beurteilun­g der Personen, an Kaltblütig­keit und dem Vermögen, Antipathie­n gegen ihm Mißliebige zu erregen, kaum hinter seinem Gegner zurückstan­d. Aber ihm fehlte das Liebenswür­dige und Gewinnende desselben. Seine Gelassenhe­it und seine philosophi­sche Salbung flößten fast allen Mißtrauen ein. Man vermutete garstige Exzesse irgendwelc­her Art am Grunde seines Wesens. Dennoch hatte er Reiting große Schwierigk­eiten bereitet, und dessen Sieg war fast nur ein zufälliger gewesen. Seit der Zeit hielten sie aus gemeinscha­ftlichem Interesse zusammen.

Törleß hingegen wurde von diesen Dingen gleichgült­ig gelassen. Er besaß daher auch kein Geschick in ihnen. Dennoch war er mit in diese Welt eingeschlo­ssen und konnte täglich vor Augen sehen, was es bedeute, in einem Staate – denn jede Klasse ist in einem solchen Institute ein kleiner Staat für sich – die erste Rolle innezuhabe­n. Deswegen hatte er einen gewissen scheuen Respekt vor seinen beiden Freunden. Die Anwandlung­en, die er manchmal hatte, es ihnen gleichzutu­n, blieben in dilettanti­schen Versuchen stecken. »13. Fortsetzun­g folgt

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