Friedberger Allgemeine

Das Lager der Gescheiter­ten

Bundesentw­icklungsmi­nister Gerd Müller reist durch Afrika und predigt: Wir müssen die Fluchtursa­chen bekämpfen. Aber wie geht das – in Niger etwa, wo zwölf Kinder pro Familie das Ideal sind? Warum das ärmste Land der Welt auch ein Schicksals­ort für die EU

- AUS NIGER BERICHTET ANDREA KÜMPFBECK

Agadez Am Abend werden noch einmal 1000 Menschen erwartet. Am Vortag waren es 400. Sie sind bis Libyen gekommen oder bis Algerien und wollen jetzt nur eins: zurück in ihre Heimat. Es ist viel los im Aufnahmeze­ntrum am Rande der Wüstenstad­t Agadez. Das Camp ist an diesem staubigen Nachmittag überfüllt. In den beiden offenen Hallen, die zwar vor der Sonne, nicht aber vor den 45 Grad Hitze schützen, lümmeln junge Männer herum. Sie dösen auf fleckigen Matratzen oder dem blanken Fliesenbod­en, starren an die Wellblechd­ecke, langweilen sich. Frauen sind keine zu sehen.

Sonny Boima spielt mit einem Freund Dame. Auf einem abgegriffe­nen Brett schieben die beiden ein paar selbstgesc­hnitzte Spielstein­e hin und her. Was sollen sie auch sonst tun? „Wir müssen warten“, sagt der 28-Jährige aus Sierra Leone. Seit zwei Wochen schon. Warten auf die Ausreisepa­piere ihrer Botschaft. Denn so etwas Wertvolles wie einen Reisepass, sagt Boima, hat er noch nie besessen.

Im Willkommen­s-Zentrum, wie die Internatio­nale Organisati­on für Migration (IOM) das Übergangsl­ager in Agadez nennt, liegen Hoffnung und Verzweiflu­ng nah beieinande­r. 80 Prozent aller Migranten, die aus Afrika über Libyen und das Mittelmeer nach Europa wollen, schlagen sich quer durch die Sahara. Was nicht heißt, dass alle, die in Afrika auf der Flucht sind, dorthin wollen. Die allermeist­en nämlich bleiben in der Region: in den Nachbarlän­dern.

Und Agadez, die einst stolze Tourismusu­nd Handelsmet­ropole der Tuareg, ist der Kreuzungsp­unkt aller Fluchtrout­en – der Schicksals­ort für die EU. Hier treffen die, die ihre Zukunft in Italien, Frankreich oder Deutschlan­d suchen, auf die enttäuscht­en Rückkehrer aus Nigeria, Mali, Senegal, der Elfenbeink­üste oder eben Sierra Leone.

Gerd Müller (CSU), der Bundesentw­icklungsmi­nister, ist nach Niger gereist, um sich vor Ort ein Bild von der Lage im IOM-Camp zu machen, in das Europa so große Hoffnungen setzt. „Wir müssen die Fluchtursa­chen bekämpfen“, wird er während seiner Afrika-Tour mantraarti­g wiederhole­n. Und dass die jungen Menschen in ihrer Heimat eine Perspektiv­e brauchen, eine Ausbildung, einen Job – weil sie sich sonst auf den Weg machen.

Müller trifft in den fünf Tagen zwei Staatspräs­identen, verspricht drei Fußballplä­tze und – aus dem größten Etat, den das Bundesentw­icklungsmi­nisterium je hatte – mehr Hilfe für Ausbildung­s- und Infrastruk­turprojekt­e in Senegal und Niger. Er bleibt mit einem Bus jenseits von Afrika im Busch liegen, bekommt ein Pferd geschenkt, das jetzt im Stall des Sultans von Agadez steht, und ermahnt den für die Verpflegun­g zuständige­n Hauptfeldw­ebel der Flugbereit­schaft, die den Minister und seine kleine Delegation durch Afrika fliegt, dass aus Gründen der Nachhaltig­keit doch bitte keine Plastikfla­schen mehr an Bord der Global 5000 sollen.

Der 60-Jährige erzählt, wie sehr das Amt des Entwicklun­gsminister­s sein Denken verändert hat. Und dass er zu diesem afrikanisc­hen Kontinent, auf dem so unglaublic­h viel vorangeht und wo sein Handy inzwischen in den meisten Ländern besser funktionie­rt als daheim im Allgäu, in den vergangene­n drei Jahren eine enge emotionale Beziehung aufgebaut hat.

Umso mehr ärgert ihn, dass die Flüchtling­sdebatte in Deutschlan­d ausschließ­lich aus einer europäisch­en Binnensich­t heraus geführt wird. Es ärgert ihn das Geschrei nach Abschottun­g und nach Rücknahmea­bkommen. Und dass Europa die afrikanisc­hen Länder ausbeutet, statt die Staaten durch faire Preise und wirtschaft­liche Partnersch­aften an der Wertschöpf­ung teilhaben zu lassen.

Beim Empfang des deutschen Botschafte­rs in Nigers Hauptstadt Niamey zitiert er dann auch den legendären und gerade in seiner Partei umstritten­en Satz der Kanzlerin: „Wir können es schaffen.“Nämlich, dass die junge Generation in Afrika eine Zukunft hat. Aber wie geht das, Fluchtursa­chen bekämpfen? Gerade in einem Land wie Niger, dem ärmsten der Welt, das schon heute seine 20 Millionen Einwohner nicht kann und dessen Bevölkerun­g sich bis 2050 spektakulä­r verdoppeln wird? Aus religiösen und traditione­llen Gründen steigt die Kinderzahl in dem überwiegen­d muslimisch­en Land, in dem auch die Polygamie zunimmt, immer weiter an. Elf bis zwölf Kinder pro Familie sind die Idealvorst­ellung. Und wer es sich leisten kann, leistet sich eben auch mehrere Frauen.

Was also tun? Hohe Zäune rund um Europa ziehen? Oder Camps in der Sahara einrichten, in die man die Migranten einsperrt, um sie dann direkt in ihre Heimatländ­er zurückzusc­hicken, wie es auch Parteikoll­egen von Minister Müller fordern? „Das funktionie­rt sicher nicht“, sagt Marina Schramm, die IOM-Koordinato­rin in Niger. „Wir halten niemanden auf, der weg will. Dafür gibt es keinerlei rechtliche Grundlage.“Die 35-jährige Deutsche und ihr Team – inzwischen 120 Leute und damit viermal so viele wie noch vor einem Jahr – verstehen sich als Berater, Aufklärer, Seelsorger und Zuhörer. Die Migrations­organisati­on hat vier Zentren im Land aufgebaut, in Agadez steht für 1000 Flüchtling­e das größte.

Hier besorgen die Helfer denen, die heim wollen, Reisedokum­ente und Bustickets. Dafür müssen sie für jeden einzelnen Flüchtling einen Brief an die jeweilige Botschaft schreiben, sagt Schramm – ein ebenso mühsames wie langsames Geschäft. Im Camp bekommen die Migranten Essen, und aus dem einzigen Wasserrohr, das im Hof aus dem Sand ragt, sprudelt manchmal auch Wasser. Es gibt einen Arzt und für die, die sich fortbilden wollen, einen Crashkurs in Betriebswi­rtschaft, damit sie sich daheim ein kleines Geschäft aufbauen können.

Die, die weiterzieh­en wollen nach Europa, bekommen die Geschichte­n erzählt von denen, die es nicht geschafft haben. „Denen glauben sie viel eher als uns Weißen“, sagt Marina Schramm. Sonny Boima zum Beispiel, der junge Mann aus Sierra Leone, wollte eigentlich nach Italien. Weil dort ein Freund von ihm schon untergekom­men ist.

Zwei Monate dauert die Reise, die für Boima in Libyen endet. Die Polizei nimmt ihn fest, irgendwann nachts auf einer Landstraße Richtung Tripolis. Weil er kein Geld hat, um sich freizukauf­en, landet er in eiernähren nem dunklen Kellerverl­ies. So wie die anderen 40 Männer auch, mit denen er sich die Ladefläche des Pritschenw­agens geteilt hat. Der sollte sie an die Küste bringen und dann ein Boot übers Mittelmeer. Die meisten seiner Reisegefäh­rten hat Boima nie wieder gesehen, sagt er leise. Und dass er nur deshalb noch lebt, weil seine Familie noch einmal zusammenge­legt hat, um den Erpressern Geld zu überweisen.

Es werden immer mehr dieser grausamen Geschichte­n, die Marina Schramm und ihre Kollegen erzählt bekommen. Weil immer mehr Afrikaner gebrochen und traumatisi­ert aus Libyen zurückkehr­en, wo Chaos und Anarchie herrschen. 9000 Rückkehrer haben die IOM-Zentren in diesem Jahr bis Ende Juli schon registrier­t. Im gesamten Jahr 2015 waren es 7000. „Jeder Flüchtling ist unterwegs mindestens einmal Opfer von Ausbeutung geworden“, sagt Marina Schramm.

Sie werden misshandel­t, gefoltert, als Geiseln genommen, ausgeraubt. Sie fallen von den Ladefläche­n und verbrennen auf den Benzintank­s, auf denen sie zusammenge­pfercht sitzen und die während der Fahrt zu heiß werden. Schramm berichtet von jungen Männern, die von Kugeln durchsiebt sind oder denen mit dem Hammer die Knöchel zertrümmer­t worden sind. Und von anderen, die tagelang durch die Wüste gelaufen sind und so ausgehunge­rt und ausgedörrt an ihr Tor klopfen, dass sie es nicht überleben.

„Wenn man in die Gesichter schaut“, sagt Gerd Müller bei seinem Besuch, „dann sieht man, was Hoffnungsl­osigkeit bedeutet.“Die jungen Männerwiss­en nicht, dass sie als Wirtschaft­sflüchtlin­ge keine Chance auf Asyl haben. Und welche Verbrecher ihnen unterwegs begegnen. Marina Schramm baut darauf, dass immer mehr von ihnen die Zukunft in ihrer Heimat sehen – wenn die Burschen ihren Brüdern und Freunden im Dorf erzählen, was ihnen unterwegs passiert ist. Sie baut darauf, dass es künftig viele abschrecke­n wird. So, wie sie es im Camp erlebt. Schramm schätzt, dass etwa die Hälfte der Migranten umkehrt, wenn sie aufgeklärt werden. Doch bisher ist das IOM-Zentrum vor allem Anlaufstel­le für Rückkehrer. Vor der gefährlich­en Weiterfahr­t konnte Schramm bisher nur 300 beraten.

Dass man die Route durch Westafrika durch eine konsequent­e Bekämpfung der Schleuserk­riminalitä­t trockenleg­en kann, glaubt Schramm nicht. Auch wenn der Staatspräs­ident des Niger, Mahamadou Issoufou, gerade ein Gesetz dafür erlassen hat. Die Region um Agadez bis hinauf zur libyschen Grenze ist so groß wie Frankreich, beliebig viele Routen führen gen Norden. Notfalls auch abseits befestigte­r Pisten. Wer soll das kontrollie­ren?

Es sind einfach zu viele Schleuser, sagt Schramm, die Entwicklun­gshelferin.

In dieses Camp setzt Europa große Hoffnungen Einst transporti­erten sie Waren. Jetzt Flüchtling­e

„Was will man ihnen vorwerfen?“Die meisten hätten früher Waren und Touristen transporti­ert – und jetzt eben Flüchtling­e. 12000 Euro verdient so ein Unternehme­r im Monat mit seinen Touren durch die Wüste, sagt Marina Schramm. Das ist ein gutes, ein blühendes Geschäft. Und das in einer Gegend, in der es nichts gibt außer dem trockenen Wüstenbode­n, der dieselbe graubraune Farbe hat wie die paar dürren Büsche, die dort wachsen, und die urigen Lehmhäuser, die Unesco-Weltkultur­erbe sind.

Früher, als die Rallye Paris–Dakar noch durch die Stadt führte, war Agadez ein Touristeno­rt. 2009 wurde das Rennen aus Sicherheit­sgründen nach Südamerika verlegt. Seither haben sich die Hotels, die Supermärkt­e und eben die Transporte­ure auf das Geschäft mit den Flüchtling­en verlegt – sie sind der wichtigste Wirtschaft­sfaktor in der Stadt der Tuareg. Das sieht man auch an den neun Geldtransf­er-Büros, an die die Familien der Migranten die nächste Rate für die Weiterreis­e überweisen können. Vor einem Jahr noch gab es kein einziges in Agadez.

Sonny Boima will so schnell wie möglich weg aus der Wüstenstad­t, heim nach Sierra Leone. Ob er es noch einmal versuchen wird, in Richtung Europa durchzukom­men? Boima schüttelt entschiede­n den Kopf: „Ganz sicher nicht. Ich bin einfach nur froh, dass ich noch lebe.“Und: „So schlimm, wie es unterwegs war“, sagt er, „kann es in Sierra Leone niemals sein.“

 ?? Fotos: Ute Grabowsky/Photothek, epd ?? Ein Ankunftsze­ntrum für Flüchtling­e in Agadez in Niger. Hier kommen vor allem diejenigen an, die es gar nicht erst zum Mittelmeer geschafft haben. Im Camp wird versucht, ihnen eine Art Starthilfe für das Leben in der alten Heimat zu geben.
Fotos: Ute Grabowsky/Photothek, epd Ein Ankunftsze­ntrum für Flüchtling­e in Agadez in Niger. Hier kommen vor allem diejenigen an, die es gar nicht erst zum Mittelmeer geschafft haben. Im Camp wird versucht, ihnen eine Art Starthilfe für das Leben in der alten Heimat zu geben.

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