Er lässt sie alle wieder sehen
Für Menschen in Entwicklungsländern sind Sehhilfen oft unbezahlbar. Martin Aufmuth hilft mit der „EinDollarBrille“. Im Olympia-Land Brasilien verändert seine Idee ganze Leben
Herr Aufmuth, Sie sagen über sich, dass Sie die Welt verändern wollen. Mit Brillen? Martin Aufmuth: Es ist nicht möglich, als Einzelperson die ganze Welt zu ändern. Aber es gibt ein paar Bereiche, bei denen mit einem geringen Einsatz an Mitteln ein sehr großer Nutzen generiert werden kann. Eine Brille für wenige Euro kann ein ganzes Leben verändern.
In welcher Hinsicht?
Aufmuth: Ein Kind kann in der Schule lesen, was an der Tafel steht, und hat so später eine Chance am Arbeitsmarkt; Erwachsene können arbeiten und für ihre Familien sorgen. Wir brauchen uns ja nur zu überlegen, was passieren würde, wenn es in Deutschland plötzlich keine Brillen mehr gäbe.
Wie funktioniert Ihre Arbeit?
Aufmuth: Wir fahren in einzelne Länder und laden die Leute zu Sehtests ein. Die Materialkosten für eine Brille betragen dann ungefähr einen Dollar. Sie besteht aus einem extrem leichten, biegsamen Federstahlrahmen und vorgeschliffenen Gläsern aus Polycarbonat. Der Verkaufspreis liegt bei zwei bis drei ortsüblichen Tageslöhnen. Darin enthalten sind dann auch die Lohnkosten für unsere Mitarbeiter und die Optiker. Unser Ziel ist der Aufbau einer augenoptischen Grundversorgung in Entwicklungs- und Schwellenländern, die sich später einmal selbst trägt. Hilfe zur Selbsthilfe also.
Ihr Verein ist bisher in acht Nationen aktiv. Wie entscheiden Sie, welche Länder Sie besuchen?
Aufmuth: Wir prüfen die Chancen, in einem Land schnell gute Erfolge zu erzielen. Ein hoher Bedarf an Brillen besteht in praktisch allen schlecht entwickelten Regionen dieser Welt.
Seit 2014 fertigen Sie in Brasilien Ihre „EinDollarBrille“– im Land der Olympischen Spiele. Wie kam das?
Aufmuth: Ralf Toenjes, der jetzige Leiter des Projekts dort, hat bei einer Preisverleihung in Mexiko unseren Verein kennengelernt und war spontan begeistert. Er hat mit seinem Team aus Studenten alles für unseren Einsatz vorbereitet und leitet heute die Organisation vor Ort.
Sie selbst haben sich in São Paulo angeschaut, wie die Menschen in den Armenvierteln leben. Was hat sich in Ihre Erinnerung eingebrannt?
Aufmuth: Zum einen die enorme Ungerechtigkeit: Auf der einen Seite der Reichtum und wenige Meter daneben die große Armut in den Favelas und der tägliche Kampf ums Überleben. Aber auch die freundliche Offenheit, die Warmherzigkeit und die Bescheidenheit der Menschen. Man fühlt sich dort trotz der Armut schnell wohl und gut aufgehoben.
Welche Lebensgeschichte hat Sie am meisten bewegt?
Aufmuth: Da gibt es einige. Eine davon ist die von Suzanna Marciel. Sie ist 74 Jahre alt und mit anderen Personen aus ihrem Dorf einen Tag lang extra zum Sehtest angereist. Suzanna hat mir von ihren 15 Kindern, 54 Enkelkindern und acht Urenkeln erzählt. Sie war von ihrer neuen Brille so begeistert, dass sie unser Team spontan zu sich nach Hause zum Essen eingeladen hat. Dort hat sie stolz ihre alte Singer-Nähmaschine rausgeholt und uns gezeigt, wie sie nun dank ihrer Brille wieder nähen und so ihren vielen Kindern und Enkeln mit Näharbeiten helfen kann. Sie war glücklich, dass sie sich für ihre Familie nützlich machen kann.
Und in anderen Ländern?
Aufmuth: Da war zum Beispiel Simon aus Malawi, der mit seinen 80 Jahren eine Brille von uns bekam und erstmals in seinem Leben die Vögel in den Bäumen sah, die er bis zu diesem Zeitpunkt immer nur gehört hatte. Seine fünf Kinder waren bereits gestorben. Er sagte, ohne Brille hätte er auf dem Feld fast nicht mehr arbeiten können. Vermutlich wäre er verhungert.
Wie hat sich das „Brillengeschäft“seit Ihrer Abreise aus Brasilien weiterentwickelt?
Aufmuth: Das Projekt in Brasilien steht noch am Anfang. Aber wir haben ein sehr motiviertes, junges Team aus Einheimischen, das wirklich etwas in seinem Land verändern möchte. Ich bin zuversichtlich, dass sich das Projekt schnell weiterentwickelt. Der Bedarf dort ist riesig: In rund 79 Prozent der Städte des Lan- des gibt es keinen Augenarzt. Viele Millionen Menschen haben keinen Zugang zu Brillen.
Sie tragen selbst eine Brille. Wann haben Sie gemerkt, dass Sie eine brauchen?
Aufmuth: Meine erste Brille habe ich als Kind im Sandkasten des Kindergartens vergraben. Dann habe ich viele Jahre von meinen Banknachbarn abgeschrieben. Erst als es auf das Abitur zuging, habe ich mir eine Brille fertigen lassen. Ohne sie hätte ich möglicherweise nicht studiert – und auch die „EinDollarBrille“gäbe es heute nicht.