Friedberger Allgemeine

Diese Welt ist nicht genug

Was hat Pokémon Go mit den Beatles zu tun? Was der Politikver­druss von heute mit einem Drogenpaps­t von einst? Eine Reise ins bahnbreche­nde Jahr 1966 führt zu den Wurzeln unserer heutigen Wirklichke­it

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Es war das Jahr, in dem gleich zwei der Musikalben erschienen, die bis heute für die besten und wichtigste­n der Popgeschic­hte gelten: „Revolver“von den Beatles und „Pet Sounds“von den Beach Boys. Gleichzeit­ig hatten die Rolling Stones mit „Aftermath“ihren Durchbruch. Und spätere Legenden wie Pink Floyd, die Doors und Jimi Hendrix erregten erstmals Aufmerksam­keit. Es war das Jahr, in dem sich in den USA durch die Proteste gegen den eskalieren­den Vietnam-Krieg die Hippie-Bewegung gründete – und dann auch in ersten, autonomen Seminaren in Berliner Universitä­ten die linke Studentenr­evolte ihren Ausgang nahm – der Zündfunke für die 68er. Es war das Jahr, in dem Walt Disney starb, Mao seine verheerend­e „Kulturrevo­lution“begann und das Raumschiff Enterprise erstmals in unendliche Weiten startete, während sich im Weltraum das wirkliche Rennen der Supermächt­e zum Mond zuspitzte… Es war 1966.

Eine hübsche Kulturgesc­hichte voller Ikonen. Aber was soll das abseits aller Nostalgie mit uns heute noch zu tun haben?

Damals, vor 50 Jahren hat alles begonnen, anders zu werden. Nur zum Beispiel: Das, was aktuell so viele Menschen weltweit spielerisc­h mitreißt, dass der japanische Konzern Nintendo damit 13 Millionen Dollar umsetzt pro Tag, dieses „Pokémon Go“-Spiel – das hat seine ideellen Wurzeln direkt im Damals. Denn 1966 war das Jahr, in dem das, was heute als Verschmelz­ung der digitalen und der unmittelba­ren Wirklichke­it „Augmented Reality“heißt, geboren wurde. Nicht umsonst sangen die Doors in ihrem legendären Debüt genau damals „Break on Through to the Other Side“. Jene andere Seite jedenfalls ist seitdem zu einem bestimmend­en Element unseres Lebens geworden. Nur dachte man damals noch, sie würde nur im Bewusstsei­n liegen…

Auf einen Nenner gebracht lautet der Schlüssel von damals Lysergsäur­ediethylam­id. Nach dem berühmt und berüchtigt gewordenen Kürzel hieß auch ein Chart-Erfolg der Band Pretty Things dieses Jahres: „LSD“. Denn 1966 fand die stark halluzinog­ene Substanz den Weg aus den psychiatri­schen Forschunge­n des Albert Hofmann in die Popkultur, Spitzname „Acid“. Mit Autor Ken Kesey („Einer flog übers Kuckucks- seinem „Psychedeli­c Shop“in San Francisco und seinen „Acid Test“-Partys – auf Bus-Tour mit den Merry Pranksters und bei Shows mit den Greatful Dead.

Aber auch bei der Zusammenar­beit des Künstlers Andy Warhol mit den Musikern von Velvet Undergroun­d. Auf dem Beatles-Album „Revolver“sind mindestens die Songs „Lucy in the Sky with Diamonds“und „Tomorrow never Knows“unter LSD-Einfluss entstanden. Auch dass Ober-BeachBoy Brian Wilson ein leidenscha­ftlicher Konsument war, ist kein Geheimnis („LSD hat mein Hirn zermatscht“, meinte er rückblicke­nd 2012). Wie die Rolling Stones wiederum, was den Herren Jagger und Richards 1967 eine Verhaftung einhandelt­e und bei einer im Raum ste- Verurteilu­ng von bis zu zehn Jahren Haft wohl das Ende der da erst richtig Fahrt aufnehmend­en Karriere bedeutet hätte. 1966 jedenfalls ließ auch der Zunder LSD die Rockmusik in alle Richtungen ausgreifen. Was dort an sinnenüber­wältigende­n „Happenings“aus Sound, Licht und Bildern geboren wurde, prägt bis heute die Spektakel der Unterhaltu­ngsindustr­ie.

Freudige Konsumente­n der Substanzen waren aber auch die Pioniere des digitalen Zeitalters im heutigen Silicon Valley, die ersten Ingenieure des Personal Computers, darunter der Erfinder der Maus, Dounest“), glas Engelbart – und in der Folge auch ein Mann namens Steve Jobs. Und als der vom Harvard-Professor zum Papst der LSD-Bewegung gewordene Timothy Leary einst aus dem Gefängnis kam, in das ihn seine Verherrlic­hung einer schnell als Droge verbotenen Substanz gebracht hatte, sollte er prophezeie­n: Die virtuelle Wirklichke­it, die durch die Computer erahnbar wurde, sie werde dereinst die tatsächlic­he Erweiterun­g der Welt bringen.

Rückt uns das alles damit nicht schlagarti­g näher? Im Zeitalter von Pokémon Go, da von Japan aus ein erster rein digitaler Popstar auf Welttourne­e geht, ein Hologramm namens Hatsune Miku, da durch Brillen die Rundum-Erfahrung der virtuellen Realität marktreif ist?

Wer das kulturhist­orisch betrachhen­den ten will, ist mit Frank Schäfers Buch „1966 – Das Jahr, in dem die Welt ihr Bewusstsei­n erweiterte“(Residenz-Verlag) bestens aufgehoben. Und wer sich für die Drogengesc­hichte interessie­rt, dem sei „Neues von der anderen Seite: Die Wiederentd­eckung des Psychedeli­schen“empfohlen (Suhrkamp). Darin erzählen die Autoren Paul-Philipp Hanske und Benedikt Sarreiter, wie LSD heute gerade in den USA wieder im Sinn des Erfinders Albert Hofmann eingesetzt wird – zur Vorbereitu­ng einer Therapie bei unzugängli­chen Traumatisi­erten, kriegsgesc­hädigten Soldaten etwa.

Neben dem Pop, der klinischen Arbeit und der virtuellen Welt ist das Bahnbreche­nde von 1966 heute aber noch in ganz anderer Weise präsent – und als Umkehrung der Verhältnis­se sogar brisant. Die Umwälzunge­n durch LSD und die politische Revolte jener Jahre haben zu einem Kulturbruc­h geführt, der sich in einem Gesellscha­ftskonflik­t verfestigt­e: die alte, rechts-konservati­ve Ordnung gegen die junge, linksliber­ale Freiheit. In Deutschlan­d beschleuni­gt durch die 20 Jahre nach Kriegsende aufbrechen­de Diskussion um das Erbe der Nazizeit. Das Verwalten der Welt war nicht mehr genug – es begann, weit über die Kommunen hinaus, ein Aufbegehre­n gegen herrschend­e Eliten.

50 Jahre später hat den sich ausbreiten­den Unmut über die heutigen Eliten der AfD-Sprecher Jörg Meuthen formuliert: mit einer Tirade gegen das „vom links-rotgrün versifften 68er-Deutschlan­d“. Wenn er nun das Wiedererst­arken einer national-konservati­ven Kraft verheißt, spricht er dann nicht genau für das, was viele Bürgerlich­e durch die Entwicklun­gen von 1966 gefährdet sahen: die alte Ordnung? Und spricht Trump in den USA nicht von genau demselben, gegen denselben Gegner, im Sinne desselben Unmuts? War die vor 50 Jahren begonnene Erweiterun­g der Welt also ein nach heutiger Einsicht zu korrigiere­nder Irrtum? Taugt Freiheit bloß noch für Popspektak­el und Spiele auf dem Smartphone?

Tatsächlic­h ist abzusehen, dass Pokémon Go eine Station auf der Erfüllung zu dem sein wird, was LSDProphet­en vor 50 Jahren propagiert­en. Wenn erst jene Kontaktlin­sen, an denen heute geforscht wird, marktreif sind, jene Kontaktlin­sen, die im Sehen virtuelle mit wirklicher Welt verbinden – dann wird sich auch das Bewusstsei­n verändern.

Der erste digitale Popstar geht auf Welttourne­e

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Fotos: dpa, afp, Labels Zentral: Pokémon Go. Und Ikonen von 1966 (von links oben im Uhrzeigers­inn): Timothy Leary, das Beach-Boys-Album „Pet Sounds“, frühe Hippies, das Rolling-Stones-Album „Aftermath“, die erste Besatzung des „Raumschiff Enterprise“, das Beatles-Album...
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