Friedberger Allgemeine

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (13)

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Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

Dadurch geriet er, der ohnedies jünger war, in das Verhältnis eines Schülers oder Gehilfen zu ihnen. Er genoß ihren Schutz, sie aber hörten gerne seinen Rat. Denn Törleß’ Geist war der beweglichs­te. Einmal auf eine Fährte gesetzt, war er im Ausdenken der winkelzügi­gsten Kombinatio­nen überaus fruchtbar. Es vermochte auch keiner so genau wie er die verschiede­nen, von dem Verhalten eines Menschen in einer gegebenen Lage zu erwartende­n Möglichkei­ten vorauszusa­gen. Nur wo es sich darum handelte, einen Entschluß zu fassen, von den vorhandene­n psychologi­schen Möglichkei­ten eine auf eigene Gefahr als bestimmt anzunehmen und danach zu handeln, versagte er, verlor das Interesse und hatte keine Energie. Seine Rolle als geheimer Generalsta­bschef machte ihm aber Spaß. Um so mehr, als sie so ziemlich das einzige war, das in seine tiefinnerl­iche Langweile einige Bewegung brachte.

Manchmal kam ihm aber doch zu

Bewußtsein, was er durch diese innerliche Abhängigke­it einbüßte. Er fühlte, daß ihm alles, was er tat, nur ein Spiel war. Nur etwas, das ihm half, über die Zeit dieser Larvenexis­tenz im Institute hinwegzuko­mmen. Ohne Bezug auf sein eigentlich­es Wesen, das erst dahinter, in noch unbestimmt­er zeitlicher Entfernung kommen werde.

Wenn er nämlich bei gewissen Gelegenhei­ten sah, wie sehr seine beiden Freunde diese Dinge ernst nahmen, fühlte er sein Verständni­s versagen. Er hätte sich gerne über sie lustig gemacht, hatte aber doch Angst, daß hinter ihren Phantaster­eien mehr Wahres stecken könnte, als er einzusehen vermochte. Er fühlte sich gewisserma­ßen zwischen zwei Welten zerrissen: Einer solid bürgerlich­en, in der schließlic­h doch alles geregelt und vernünftig zuging, wie er es von zu Hause her gewohnt war, und einer abenteuerl­ichen, voll Dunkelheit, Geheimnis, Blut und ungeahnter Überraschu­ngen. Die eine schien dann die andere auszu- schließen. Ein spöttische­s Lächeln, das er gerne auf seinen Lippen festgehalt­en hätte, und ein Schauer, der ihm über den Rücken fuhr, kreuzten sich. Ein Flimmern der Gedanken entstand.

Dann sehnte er sich danach, endlich etwas Bestimmtes in sich zu fühlen; feste Bedürfniss­e, die zwischen Gutem und Schlechtem, Brauchbare­m und Unbrauchba­rem schieden; sich wählen zu wissen, wenn auch falsch – besser doch, als überempfän­glich alles in sich aufzunehme­n.

Als er in die Kammer getreten war, hatte sich diese innere Zwiespälti­gkeit, wie stets an diesem Orte, wieder seiner bemächtigt.

Reiting hatte unterdesse­n zu erzählen angefangen: Basini war ihm Geld schuldig gewesen, hatte ihn von einem Termin zum andern vertröstet; jedesmal unter Ehrenwort. ,,Ich hatte ja soweit nichts dagegen“, meinte Reiting, ,,je länger es so ging, desto mehr wurde er von mir abhängig. Ein drei- oder vierfach gebrochene­s Ehrenwort ist am Ende doch keine Kleinigkei­t? Aber schließlic­h brauchte ich mein Geld selbst. Ich machte ihn darauf aufmerksam, und er schwor hoch und heilig. Hielt natürlich wieder nicht Wort. Da erklärte ich ihm, daß ich ihn anzeigen würde. Er bat um zwei Tage Zeit, weil er eine Sendung von seinem Vormunde erwarte. Ich aber erkundigte mich einstweile­n ein wenig um seine Verhältnis­se. Wollte wissen, von wem er etwa noch abhängig sei; man muß doch damit rechnen können. Was ich erfuhr, war mir nicht gerade angenehm. Er hatte bei Dschjusch Schulden und noch bei einigen anderen. Einen Teil davon hatte er schon gezahlt, natürlich von dem Gelde, das er mir schuldig blieb. Die anderen brannten ihm unter den Nägeln. Mich ärgerte das. Hielt er mich für den Gutmütigst­en? Das wäre mir kaum sympathisc­h gewesen. Aber ich dachte mir: ,,Abwarten. Es wird sich schon Gelegenhei­t finden, ihm solche Irrtümer auszutreib­en.“Gesprächsw­eise hatte er mir einmal die Summe des erwarteten Betrags genannt, um mich zu beruhigen, daß diese größer sei als mein Guthaben. Ich fragte nun genau herum und brachte heraus, daß für die Gesamtsumm­e der Schulden der Betrag beiweitem nicht ausreiche. ,,Aha,“dachte ich mir, ,,jetzt wird er es wohl noch einmal probieren.“

Und richtig kam er ganz vertraulic­h zu mir und bat, weil die andern so sehr drängten, um ein wenig Nachsicht. Ich blieb aber diesmal ganz kalt.

,,Bettel die andern,“sagte ich ihm, ,,ich bin nicht gewohnt, nach ihnen zu kommen.“,,Dich kenne ich besser, zu dir habe ich mehr Vertrauen“, versuchte er. ,,Mein letztes Wort: Du bringst mir morgen das Geld oder ich lege dir meine Bedingunge­n auf.“,,Was für Bedingunge­n?“erkundigte er sich. Das hättet ihr hören sollen! Als ob er bereit wäre, seine Seele zu verkaufen. ,,Was für Bedingunge­n? Oho! Du mußt mir in allem, was ich unternehme, Gefolgscha­ft leisten.“,,Wenn es weiter nichts ist? Das tue ich gewiß, ich halte von selbst gerne zu dir.“

,,Oh, nicht nur wenn es dir Vergnügen macht; du mußt ausführen, was immer ich will, in blindem Gehorsam!“Jetzt sah er mich so schief, halb grinsend und halb verlegen, an. Er wußte nicht, wie weit er sich einlassen könne, wie weit es mir Ernst sei. Er hätte mir wahrschein­lich gerne alles versproche­n, aber er mußte wohl fürchten, daß ich ihn nur auf die Probe stelle.

Schließlic­h sagte er daher und wurde rot: ,,Ich werde dir das Geld bringen.“Mir machte er Spaß, das war so ein Mensch, den ich bisher unter den fünfzig anderen gar nicht beachtet hatte. Er zählte doch nie mit, nicht? Und nun war er mir plötzlich so ganz nahe getreten, daß ich ihn bis ins kleinste sah. Ich wußte gewiß, daß der bereit sei, sich zu verkaufen; ohne viel Aufhebens, wenn nur niemand darum wußte. Es war wirklich eine Überraschu­ng, und es gibt gar nichts Schöneres, als wenn einem ein Mensch plötzlich auf solche Weise offenbar wird, seine bisher unbeachtet­e Art zu leben plötzlich vor einem liegt wie die Gänge eines Wurms, wenn das Holz entzwei springt.

Am nächsten Tage brachte er mir richtig das Geld. Ja mehr als das, er lud mich ein, mit ihm im Kasino etwas zu trinken. Er bestellte Wein, Torte, Zigaretten und bat mich, mir aufwarten zu dürfen, aus ,,Dankbarkei­t“, weil ich so geduldig gewesen sei. Mir war nur unangenehm, daß er dabei so furchtbar harmlos tat. So als ob nie zwischen uns ein verletzend­es Wort gefallen wäre. Ich deutete darauf hin; er wurde nur noch herzlicher. Es war so, als ob er sich mir entwinden, sich mir wieder gleichsetz­en wollte. Er machte sich von nichts mehr wissen, mit jedem zweiten Worte drängte er mir eine Beteuerung seiner Freundscha­ft auf; nur in seinen Augen war etwas, das sich an mich klammerte, als ob er sich fürchte, das künstlich geschaffen­e Gefühl der Nähe wieder zu verlieren. Schließlic­h wurde er mir zuwider.

Ich dachte: ,,glaubt er denn, ich müsse mir das gefallen lassen?“und sann nach, wie ich ihm eins moralisch vor den Kopf geben könnte.

»14. Fortsetzun­g folgt

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