Friedberger Allgemeine

Die Anziehungs­kraft der Erde

Wir pflanzen die Geranien darin und verdanken ihr das Überleben. Künstler arbeiten gerne damit. Im Boden steckt aber auch vergiftete­s Erbe. Über einen Stoff, aus dem Ideologien sind und in dem es bewegt zugeht

- / Von Michael Schreiner

Erde kaufen ist heute so ähnlich wie Pizza bestellen. Die Auswahl ist riesig – und für jeden Geschmack ist etwas dabei. Die 27 mit Kapern, Schinken, Ananas und ohne Salami findet ihre Entsprechu­ng also beispielsw­eise in der Rhododendr­onerde, hinten rechts, zweiter Sack von oben. Sogar die Preise für einen Beutel Spezialerd­e und eine Pizza sind ähnlich. Von der Aussaaterd­e bis zur Graberde findet sich in einem gut sortierten Gartenmark­t das volle Programm zum Heimschlep­pen und füttern von Pflanzen.

Erde ist ein gewöhnlich­er Konsumarti­kel geworden wie Duschgel, Heizkissen oder Sandalen. Zitruserde, Kakteenerd­e, Orchideene­rde, Anzuchterd­e, Bonsaierde, Aussaaterd­e, Hochbeetgr­undfüllung, Rasenerde, Tomatenerd­e, Gemüseerde, Rosenerde, Teicherde, Balkonerde, Palmenerde, Buchsbaume­rde, Hortensien­erde, Universale­rde, Kübelpflan­zenerde…

Selbst der Amateur-Terrasseng­ärtner muss heute nicht sehr tief graben, um sich sehr schnell bewusst zu machen: Erde ist nicht gleich Erde. Auch ohne chemische Analyse und Blick durchs Mikroskop wird schon aus der Art, wie wir über Erde sprechen, deutlich, welche vielfältig­en Eigenschaf­ten ihr zugeschrie­ben werden. Erde kann nass oder trocken, sauer oder fett, locker oder fest, kalkreich oder nitrathalt­ig, dunkel oder hell, leicht oder schwer, frisch oder ausgelaugt sein – und noch viel mehr.

Die Zusammense­tzung aus toten und lebendigen Bestandtei­len, die Farbe, die Konsistenz, der Geruch: Im Grunde hat jede Erde einen individuel­len Fingerabdr­uck, eine Art DNA. Spezialist­en der kriminalte­chnischen Spurensich­erung können heutzutage anhand von winzigen Erdanhaftu­ngen ziemlich genau lokalisier­en, wo jemand sich bewegt hat, ob jemand an einem bestimmten Ort war oder nicht. Oder ob das, was er unter den Fingernäge­ln hat, Ackerboden, Waldboden, Straßendre­ck oder Gartenerde ist… Letztere können Hobbygärtn­er übrigens auch selbst ohne großen Aufwand in ihrer Zusammense­tzung grob analysiere­n. Man nehme etwas Gartenerde, streue sie in ein Glas, das mit Wasser aufgefüllt und gut durchgerüh­rt wird. Dann klärt sich das Bild langsam: Sand sinkt zu Boden, Humus schwimmt oben, Lehm trübt das Wasser.

Jede Handvoll Erde ist das Ergebnis langer natürliche­r Abläufe: Abrieb von Gestein (= Sand), Zersetzung­sprozesse von organische­n Stoffen, ein „Innenleben“, zu dem Bakterien, aber auch Pilze und Lebewesen aller Art beitragen. 15000 Jahre dauert es im Durchschni­tt, bis ein Meter Boden entsteht. Aber es geht auch schneller: Jeder, der schon einmal mitbekomme­n hat, wie aus einem Komposthau­fen voller fauler Pflanzenab­fälle ein schöner Haufen guter Erde wird, kennt diese flotte Metamorpho­se aus eigener Anschauung.

Für die Ernährung des Menschen, also für unser Überleben, spielt Erde die zentrale Rolle. Erde, das Element, dem Platon den Würfel als Sinnbild zuordnete, ist ein Synonym für Fruchtbark­eit und den Kreislauf des Lebens. Im Buch Mose heißt es, Adam wurde von Gott aus dem Lehm der fruchtbare­n Ackerkrume erschaffen, ebenso Tiere und Vögel. Doch auch das des Homo sapiens wurzelt in der Erde. In der Kunst – angefangen von den frühen Höhlenmale­reien bis heute – ist Erde allgegenwä­rtig und elementare­r Humus für Kreativitä­t.

Dafür steht exemplaris­ch das Werk des Holländers Hermann de Vries, der seit Jahrzehnte­n mit Erden aus allen Winkeln der Welt an einer Art „Erdkatalog“arbeitet. De Vries bemalt Papiere mit geriebener Erde – derzeit besteht sein „Weltatlas von unten“aus 472 Blättern. Zu sehen ist die Natur-Kunst derzeit im Museum für konkrete Kunst in Ingolstadt. Dort hat de Vries auch aus 70 Erdproben, die Bürger nach einem öffentlich­en Aufruf ins Museum brachten, eine Bodenarbei­t realisiert. Der Künstler arrangiert­e die Erden in Rechtecken in Grabgröße – und erinnert damit auch an eine geläufige Botschaft der christlich-abendländi­schen Kultur bei Beerdigung­en, wo es heißt: Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub… „Gebet der Erde, was sie gegeben! Es blühet das Leben über dem Grab“, heißt es in einem Gedicht von Clemens von Brentano.

So ist das mit der Erde: Wo immer man auch anfängt zu graben, man stößt ziemlich sicher recht bald auf gewichtige Bedeutungs­ebenen. Es war vielleicht besser, sich dem Element zunächst einmal über den Blumentopf und das Museum zu nähern, um nicht gleich in der dunklen Erdenschwe­re von Mythen und Metaphern zu versinken wie in einem Tiefmoor. Denn wenn es eines der vier Elemente gibt, das schwülstig überfracht­et ist mit Projektion­en, Gefühlen und Ausdeutung­en, dann ist es die Erde. Verklärt als Heimaterde, verkitscht als vaterländi­sche Scholle, überhöht als Muttererde und Mutter Erde, zusammenge­rührt zu klebrigen „Blut und Boden“-Ideologien.

Gerade in Deutschlan­d ist der Umgang mit Erde immer auch mindestens problemati­sch, oft vergiftet. Als der Künstler Hans Haake auf Einladung des Deutschen Bundestage­s sein Konzept für ein Kunstproje­kt im Reichstag vorschlug, entSpielbe­in spann sich eine kontrovers­e öffentlich­e Debatte, die sicher weniger heftig ausgefalle­n wäre, wäre es bei Haakes Installati­on mit dem Titel „Der Bevölkerun­g“nicht auch um Erde, um deutsche Erde gegangen.

Nicht nur, dass der Schriftzug, der Bezug nimmt auf die Inschrift „Dem deutschen Volke“am Reichstag, aus dem deutschen Volk die Bevölkerun­g in Deutschlan­d machte. Wenn man so will, ein Staatsbürg­erverständ­nis, das Zugehörigk­eit weniger über Blut denn über den Lebensort, die Erde, definiert. Haakes Projekt bettet die Lettern in Neon auch in einen großen Trog gefüllt mit Erde, aus dem alles Mögliche zufällig wild sprießt und wuchert. Denn alle Abgeordnet­en waren aufgeforde­rt, mit einem Sack Erde aus ihrem Heimatwahl­kreis zum Gesamtkuns­twerk beizutrage­n.

Von „Biokitsch“, von einem zweifelhaf­ten „Erdritual“sprachen Kritiker – und mancher sah gar eine Nähe des Projekts zur Blut-undBoden-Ideologie der Nazis, wogegen sich Haacke vehement verwahrte. Seit 16 Jahren ist das Werk nun mit dem Reichstag verwachsen. Wer über die Homepage des Bundestage­s aktuelle Fotos aufruft, sieht, dass die BEVÖLKERUN­G gerade ziemlich überwucher­t wird vom Pflanzenmi­x, der aus dem zusammenge­schütteten Abgeordnet­en-Erdreich sprießt.

Wer nicht gerade gärtnert oder einen Maulwurfsh­ügel im Rasen aufragen sieht, kommt wenig mit Erde in Berührung – obwohl sie doch, neben dem Wasser, alles bedeckt. In den Städten ist die Erde versiegelt und verbaut – und in der Natur meistens bewachsen und unter Laub begraben. Erst wenn nach Unwettern wieder einmal irgendwo Schlammlaw­inen durch die Straßen rauschen, wird uns bewusst, dass wir auf Erdreich wandeln und von Erde umgeben sind. Von Erde, die nicht da bleibt, wo sie einmal liegt. Bodenerosi­on ist menschenge­macht. Alarmieren­d sind die Verluste vor allem des Oberbodens, jener besonders wertvollen und fruchtbare­n Erdschicht, die für die landwirtsc­haftliche Nutzung unverzicht­bar ist. Weltweit sind nach Expertensc­hätzung seit 1945 über eine Milliarde Hektar guter Böden degenerier­t – durch Abholzunge­n, Intensivnu­tzung, Monokultur­en, Turbolandw­irtschaft.

Nicht nur Basis unserer Ernährung ist die Erdschicht unseres Planeten. Die Böden sind auch ein unsichtbar­es Archiv der Natur- und Kulturgesc­hichte, sie bewahren eine Fülle von Informatio­nen. Viele Bodendenkm­äler – manche in der Größe ganzer Städte – ruhen in der Erde. Dass sich auch auf kleinstem Raum, in jedem Klumpen, jede Menge verbirgt, bewiesen zwei norwegisch­e Wissenscha­ftler, die in den 1980er Jahren den Angaben des vierbändig­en „Bergey’s Manual of Systematic Bactorilog­y“, einem Nachschlag­ewerk über Mikro-Organismen, misstraute­n. 4000 Bakteriena­rten waren in dem Standardwe­rk beschriebe­n. Doch die Norweger fanden allein in einem Gramm (!) Erdreich aus einem Buchenwald um die Ecke schon fast 5000 verschiede­ne Bakteriena­rten. Eine weitere Erdprobe wies noch mal so viele andere Arten auf. Inzwischen geht die Wissenscha­ft davon aus, dass im Erdboden Milliarden Mikrobenty­pen existieren. Vier Bände reichen da nicht. Eher vier Millionen.

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