Die Anziehungskraft der Erde
Wir pflanzen die Geranien darin und verdanken ihr das Überleben. Künstler arbeiten gerne damit. Im Boden steckt aber auch vergiftetes Erbe. Über einen Stoff, aus dem Ideologien sind und in dem es bewegt zugeht
Erde kaufen ist heute so ähnlich wie Pizza bestellen. Die Auswahl ist riesig – und für jeden Geschmack ist etwas dabei. Die 27 mit Kapern, Schinken, Ananas und ohne Salami findet ihre Entsprechung also beispielsweise in der Rhododendronerde, hinten rechts, zweiter Sack von oben. Sogar die Preise für einen Beutel Spezialerde und eine Pizza sind ähnlich. Von der Aussaaterde bis zur Graberde findet sich in einem gut sortierten Gartenmarkt das volle Programm zum Heimschleppen und füttern von Pflanzen.
Erde ist ein gewöhnlicher Konsumartikel geworden wie Duschgel, Heizkissen oder Sandalen. Zitruserde, Kakteenerde, Orchideenerde, Anzuchterde, Bonsaierde, Aussaaterde, Hochbeetgrundfüllung, Rasenerde, Tomatenerde, Gemüseerde, Rosenerde, Teicherde, Balkonerde, Palmenerde, Buchsbaumerde, Hortensienerde, Universalerde, Kübelpflanzenerde…
Selbst der Amateur-Terrassengärtner muss heute nicht sehr tief graben, um sich sehr schnell bewusst zu machen: Erde ist nicht gleich Erde. Auch ohne chemische Analyse und Blick durchs Mikroskop wird schon aus der Art, wie wir über Erde sprechen, deutlich, welche vielfältigen Eigenschaften ihr zugeschrieben werden. Erde kann nass oder trocken, sauer oder fett, locker oder fest, kalkreich oder nitrathaltig, dunkel oder hell, leicht oder schwer, frisch oder ausgelaugt sein – und noch viel mehr.
Die Zusammensetzung aus toten und lebendigen Bestandteilen, die Farbe, die Konsistenz, der Geruch: Im Grunde hat jede Erde einen individuellen Fingerabdruck, eine Art DNA. Spezialisten der kriminaltechnischen Spurensicherung können heutzutage anhand von winzigen Erdanhaftungen ziemlich genau lokalisieren, wo jemand sich bewegt hat, ob jemand an einem bestimmten Ort war oder nicht. Oder ob das, was er unter den Fingernägeln hat, Ackerboden, Waldboden, Straßendreck oder Gartenerde ist… Letztere können Hobbygärtner übrigens auch selbst ohne großen Aufwand in ihrer Zusammensetzung grob analysieren. Man nehme etwas Gartenerde, streue sie in ein Glas, das mit Wasser aufgefüllt und gut durchgerührt wird. Dann klärt sich das Bild langsam: Sand sinkt zu Boden, Humus schwimmt oben, Lehm trübt das Wasser.
Jede Handvoll Erde ist das Ergebnis langer natürlicher Abläufe: Abrieb von Gestein (= Sand), Zersetzungsprozesse von organischen Stoffen, ein „Innenleben“, zu dem Bakterien, aber auch Pilze und Lebewesen aller Art beitragen. 15000 Jahre dauert es im Durchschnitt, bis ein Meter Boden entsteht. Aber es geht auch schneller: Jeder, der schon einmal mitbekommen hat, wie aus einem Komposthaufen voller fauler Pflanzenabfälle ein schöner Haufen guter Erde wird, kennt diese flotte Metamorphose aus eigener Anschauung.
Für die Ernährung des Menschen, also für unser Überleben, spielt Erde die zentrale Rolle. Erde, das Element, dem Platon den Würfel als Sinnbild zuordnete, ist ein Synonym für Fruchtbarkeit und den Kreislauf des Lebens. Im Buch Mose heißt es, Adam wurde von Gott aus dem Lehm der fruchtbaren Ackerkrume erschaffen, ebenso Tiere und Vögel. Doch auch das des Homo sapiens wurzelt in der Erde. In der Kunst – angefangen von den frühen Höhlenmalereien bis heute – ist Erde allgegenwärtig und elementarer Humus für Kreativität.
Dafür steht exemplarisch das Werk des Holländers Hermann de Vries, der seit Jahrzehnten mit Erden aus allen Winkeln der Welt an einer Art „Erdkatalog“arbeitet. De Vries bemalt Papiere mit geriebener Erde – derzeit besteht sein „Weltatlas von unten“aus 472 Blättern. Zu sehen ist die Natur-Kunst derzeit im Museum für konkrete Kunst in Ingolstadt. Dort hat de Vries auch aus 70 Erdproben, die Bürger nach einem öffentlichen Aufruf ins Museum brachten, eine Bodenarbeit realisiert. Der Künstler arrangierte die Erden in Rechtecken in Grabgröße – und erinnert damit auch an eine geläufige Botschaft der christlich-abendländischen Kultur bei Beerdigungen, wo es heißt: Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub… „Gebet der Erde, was sie gegeben! Es blühet das Leben über dem Grab“, heißt es in einem Gedicht von Clemens von Brentano.
So ist das mit der Erde: Wo immer man auch anfängt zu graben, man stößt ziemlich sicher recht bald auf gewichtige Bedeutungsebenen. Es war vielleicht besser, sich dem Element zunächst einmal über den Blumentopf und das Museum zu nähern, um nicht gleich in der dunklen Erdenschwere von Mythen und Metaphern zu versinken wie in einem Tiefmoor. Denn wenn es eines der vier Elemente gibt, das schwülstig überfrachtet ist mit Projektionen, Gefühlen und Ausdeutungen, dann ist es die Erde. Verklärt als Heimaterde, verkitscht als vaterländische Scholle, überhöht als Muttererde und Mutter Erde, zusammengerührt zu klebrigen „Blut und Boden“-Ideologien.
Gerade in Deutschland ist der Umgang mit Erde immer auch mindestens problematisch, oft vergiftet. Als der Künstler Hans Haake auf Einladung des Deutschen Bundestages sein Konzept für ein Kunstprojekt im Reichstag vorschlug, entSpielbein spann sich eine kontroverse öffentliche Debatte, die sicher weniger heftig ausgefallen wäre, wäre es bei Haakes Installation mit dem Titel „Der Bevölkerung“nicht auch um Erde, um deutsche Erde gegangen.
Nicht nur, dass der Schriftzug, der Bezug nimmt auf die Inschrift „Dem deutschen Volke“am Reichstag, aus dem deutschen Volk die Bevölkerung in Deutschland machte. Wenn man so will, ein Staatsbürgerverständnis, das Zugehörigkeit weniger über Blut denn über den Lebensort, die Erde, definiert. Haakes Projekt bettet die Lettern in Neon auch in einen großen Trog gefüllt mit Erde, aus dem alles Mögliche zufällig wild sprießt und wuchert. Denn alle Abgeordneten waren aufgefordert, mit einem Sack Erde aus ihrem Heimatwahlkreis zum Gesamtkunstwerk beizutragen.
Von „Biokitsch“, von einem zweifelhaften „Erdritual“sprachen Kritiker – und mancher sah gar eine Nähe des Projekts zur Blut-undBoden-Ideologie der Nazis, wogegen sich Haacke vehement verwahrte. Seit 16 Jahren ist das Werk nun mit dem Reichstag verwachsen. Wer über die Homepage des Bundestages aktuelle Fotos aufruft, sieht, dass die BEVÖLKERUNG gerade ziemlich überwuchert wird vom Pflanzenmix, der aus dem zusammengeschütteten Abgeordneten-Erdreich sprießt.
Wer nicht gerade gärtnert oder einen Maulwurfshügel im Rasen aufragen sieht, kommt wenig mit Erde in Berührung – obwohl sie doch, neben dem Wasser, alles bedeckt. In den Städten ist die Erde versiegelt und verbaut – und in der Natur meistens bewachsen und unter Laub begraben. Erst wenn nach Unwettern wieder einmal irgendwo Schlammlawinen durch die Straßen rauschen, wird uns bewusst, dass wir auf Erdreich wandeln und von Erde umgeben sind. Von Erde, die nicht da bleibt, wo sie einmal liegt. Bodenerosion ist menschengemacht. Alarmierend sind die Verluste vor allem des Oberbodens, jener besonders wertvollen und fruchtbaren Erdschicht, die für die landwirtschaftliche Nutzung unverzichtbar ist. Weltweit sind nach Expertenschätzung seit 1945 über eine Milliarde Hektar guter Böden degeneriert – durch Abholzungen, Intensivnutzung, Monokulturen, Turbolandwirtschaft.
Nicht nur Basis unserer Ernährung ist die Erdschicht unseres Planeten. Die Böden sind auch ein unsichtbares Archiv der Natur- und Kulturgeschichte, sie bewahren eine Fülle von Informationen. Viele Bodendenkmäler – manche in der Größe ganzer Städte – ruhen in der Erde. Dass sich auch auf kleinstem Raum, in jedem Klumpen, jede Menge verbirgt, bewiesen zwei norwegische Wissenschaftler, die in den 1980er Jahren den Angaben des vierbändigen „Bergey’s Manual of Systematic Bactorilogy“, einem Nachschlagewerk über Mikro-Organismen, misstrauten. 4000 Bakterienarten waren in dem Standardwerk beschrieben. Doch die Norweger fanden allein in einem Gramm (!) Erdreich aus einem Buchenwald um die Ecke schon fast 5000 verschiedene Bakterienarten. Eine weitere Erdprobe wies noch mal so viele andere Arten auf. Inzwischen geht die Wissenschaft davon aus, dass im Erdboden Milliarden Mikrobentypen existieren. Vier Bände reichen da nicht. Eher vier Millionen.