Leben in einer Waldhütte
Für Günther Hamker ist die Beschränkung auf das Wesentliche kein Trend. Es ist sein Leben
Wenn Günther Hamker beim Kochen merkt, dass ihm ein Ei fehlt, kann er nicht schnell in den nächsten Supermarkt laufen. Der 75-Jährige lebt in einer Waldhütte an den Bodensteiner Klippen im Harz. Und das schon seit mehr als 50 Jahren.
Weil er ja weder schnell zum Supermarkt gehen noch an irgendeine Art von Netz problemlos angeschlossen werden kann, hat er über die Jahre Alternativen geschaffen: Sein Wasser stammt aus einem selbst angelegten Brunnen, Strom erzeugt er mit Windkraft und Solarenergie, für seine Öfen hackt er selber Holz. Telefonieren klappt sogar, wenn nicht gerade ein Baum auf die Freileitung gefallen ist. Auch der Handyempfang ist schwach. 15 Minuten fährt er über holprige Forstwege ins nächste Dorf. Bei Eis und Schnee ist das gar nicht möglich.
Wer ist dieser Mann, der fernab von der Zivilisation lebt? Als Einsiedler sieht sich Hamker nicht. „Ich habe viele Freunde und Bekannte, auch wenn nur ein bis zwei Mal pro Woche jemand zu mir hoch kommt“, erzählt er an einem schönen Sommertag bei einer Tasse Tee aus Minze – natürlich selbst angebaut.
Die Bezeichnung Aussteiger mag der weißhaarige Mann mit dem wettergegerbten Gesicht ebenso wenig. „Als ich 1962 hierherzog, wusste man noch gar nicht, was das ist.“Bis 2003 bewirtschaftete Hamker seinen 80 Hektar großen Wald, den er wie die Holzhütte als 13-Jähriger von seinem Großvater geerbt hatte. Inzwischen hat der Waldbauer seinen Forst verkauft, besitzt aber noch ein Wohnrecht auf Lebenszeit.
In seiner urigen Hütte scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Der Herd wird mit Holz befeuert, das schwarze Telefon hat noch eine Wählscheibe. Vieles stammt aus Haushaltsauflösungen und vom Trödelmarkt. An den Wänden hängen historische Karten und Familienfotos vom Anfang des 20. Jahrhunderts.
„Ich habe ein Leben lang von Abgelegtem gelebt“, sagt Hamker. Freunde schenkten ihm ihren ausrangierten Fernseher oder ihr altes Laptop. Ein Smartphone wurde ihm auch schon angeboten, aber das will Hamker nicht.
Der Waldbewohner geht sparsam mit Ressourcen um und lebt den Minimalismus, den manche als Mode-Bewegung entdecken. „Es gibt den Trend zu Öko-Produkten und zur Selbstversorgung, auch in der Stadt etwa mit einem Gemeinschaftsgarten“, sagt Niko Paech. Der Oldenburger Nachhaltigkeitsforscher hält dies aber in vielen Fällen für rein symbolische Handlungen. „Der Konsum von fairem Kaffee und Bionade kann eben nicht den CO2-Ausstoß einer Flugreise nach New York kompensieren.“
Hamker hat sie erreicht – die Entschleunigung, von der so viele träumen. Am Vormittag geht er mit seinem Pflegehund Remo in den umliegenden Höhenzügen spazieren. Um Fitnesstraining muss er sich wegen der regelmäßigen körperlichen Arbeit nicht kümmern. Entspannung gönnt er sich hin und wieder. Dazu hört er klassische Musik – „Am liebsten Chopins Klavierkonzerte“. Und er liest gerne.
Das mag vielleicht etwas einsam klingen, doch Hamker fühlt sich nicht einsam. „Während meines Studiums in Göttingen in einem Mehrfamilienhaus war ich isolierter“, erzählt er. Wochenlanges Schmuddelwetter schlage ihm dann allerdings doch aufs Gemüt.
Ein Glück, scheint an diesem Tag die Sonne. Und der Wald wirkt idyllisch – nicht bedrohlich. Hamker sitzt vor dem Eingang seiner Hütte. Unter der mehr als 30 Meter hohen Kastanie, die er einst selbst als Kind gepflanzt hat. Wie im Bilderbuch. Die Vögel zwitschern. Ein kleiner Siebenschläfer taucht plötzlich auf und schnappt sich eine Aprikose vom Obstteller. Diese Klischees von der Idylle scheint es nicht ohne Grund zu geben. Tatsächlich wirkt das Gesamtbild sehr entspannend, auch auf Besucher.
Erst am Abend setzt sich Günther Hamker wieder in sein altes Auto, um den Berner Sennenhund Remo seinem Besitzer Hansjörg Spörri zurückzubringen. Der Gartenbauunternehmer aus Bockenem kennt den Einsiedler seit fast 35 Jahren. „Er ist ein besonderer Mensch und braucht diese Abgeschiedenheit“, sagt Spörri. „Es ist nicht vorstellbar, ihn in eine Stadtwohnung zu verpflanzen.“