Friedberger Allgemeine

Unnötig: der weibliche Orgasmus

Für die Fortpflanz­ung ist der Höhepunkt der Frau nicht wichtig. Trotzdem gibt es ihn, aber wieso? Eine Reise durch philosophi­sche, wissenscha­ftliche und wilde Theorien

- / Von Katrin Fischer

Warum Männer Orgasmen haben, ist klar. Sperma dient der Erhaltung der Menschheit. Aber Frauen? Die werden auch so schwanger. Da kämpfen sich etliche Männer durch Sexratgebe­r wie „Der perfekte Liebhaber“– dabei könnten sie es viel einfacher haben. Wenn es ihn nicht gäbe, den weiblichen Höhepunkt.

Forscher in Amerika haben jetzt aber herausgefu­nden, dass es eine Zeit gab, in der ohne den Orgasmus der Frau nichts gegangen wäre. Zu Beginn der Evolution wurden dadurch Hormone ausgeschüt­tet, die den Eisprung erst auslösten. Damals galt also: Ohne Orgasmus kein Eisprung. Ohne Eisprung keine Befruchtun­g, keine Kinder, keine Menschheit. Inzwischen haben Frauen ihren Eisprung aber in regelmäßig­en Abständen, bekanntlic­h alle 28 Tage. Bleibt also die Frage: Wieso ist der weibliche Orgasmus nicht evolutionä­r auf der Strecke geblieben? So wie wir zum Beispiel auch das Fell verloren haben, weil wir es nicht mehr brauchen. Der unnötige Orgasmus – ein Mysterium, das schon die Männer im antiken Griechenla­nd beschäftig­te. Aristotele­s zum Beispiel war ein Verfechter der Ein-Samen-Theorie. Demzufolge liefert einzig der Mann den entscheide­nden Stoff zur Fortpflanz­ung: das Sperma. Die Frau gebe lediglich irgendein Substrat dazu. Hippokrate­s aber – der Mann, von dem die Ärzte ihren Eid haben – war anderer Ansicht. Er glaubte, dass der weibliche Orgasmus sehr wohl wichtig ist. Ihm zufolge kann nur ein Kind empfangen werden, wenn sich die Samen (also die Ejakulatio­nen) beider Geschlecht­spartner begegnen.

Aristotele­s ließ sich von der Schlussfol­gerung des Arztes nicht beirren. Er blieb dabei: Der weibliche Orgasmus ist nicht nötig, also ist es auch nicht wichtig, ob die Frau beim Sex Freude empfindet. Aristotele­s ging es dabei lediglich darum, die Abläufe der Natur zu analysiere­n. Einigen konnte man sich im antiken Griechenla­nd noch nicht.

Später, Ende des 18. Jahrhunder­ts, hielten Ärzte nichts von der Ein-Samen-Theorie. Sie dachten, dass Frauen Lust empfinden müssen, um schwanger zu werden. Offenbar eine reine Männertheo­rie. Während der Aufklärung mehrten sich die Hinweise darauf, dass Frauen auch Kinder bekommen, wenn sie sich am Geschlecht­sakt nicht hingebungs­voll beteiligt haben. Diese Erkenntnis schlich sich langsam ein, als zum Beispiel betrunkene Frauen, deren tiefer Schlaf missbrauch­t wurde, schwanger wurden. Die hippokrati­sche Zeugungsle­hre war widerlegt, Aristotele­s schien nun doch gewonnen zu haben. Die Sicht auf die weibliche Sexualität veränderte sich. Frauen wurden zunehmend als leidenscha­ftlos und sexuell desinteres­siert wahrgenomm­en.

Was heute klar ist: Frauen werden schwanger – auch ohne Orgasmus. Doch die Frage, ob oder wie sehr es ihn braucht, die ist auch über 2300 Jahre nach Aristotele­s noch nicht geklärt. Wenn der weibliche Höhepunkt für den Erhalt der Menschheit keine Rolle spielt, warum gibt es ihn dann? Hat er doch noch Auswirkung­en auf die Fruchtbark­eit?

Viele Fragen, etliche Thesen, kein wissenscha­ftlicher Durchbruch. Eine fast schon romantisch­e Theorie lautet so: Die Frau nutzt den Orgasmus, um den richtigen Partner zu finden. Wer es bringt, ist auf irgendeine Weise einfühlsam­er und womöglich auch stark – schließlic­h steigert Testostero­n die Potenz und die Muskelkraf­t. Oder – etwas technische­r gedacht: Wenn sich die Beckenbode­nmuskulatu­r beim Höhpunkt bewegt, gelangt das Sperma besser in den Genitaltra­kt der Frau – das wäre dann für Befruchtun­g und Fortpflanz­ung durchaus relevant. Doch im Grunde sind diese Theorien ebenso belegt wie die, die Aristotele­s einst aufstellte – nämlich gar nicht.

Die Forscher Mihaela Pavlicev und Günter Wagner von den medizinisc­hen Universitä­ten in Cincinnati und Detroit in Amerika haben sich deshalb dem Thema noch mal angenommen. Sie haben erforscht, was uns die Evolution über den weiblichen Höhepunkt lehrt. Ihre Ergebnisse wurden vor kurzem im Journal

of Experiment­al Zoology veröffentl­icht. Darin ziehen sie andere Säugetiere zum Vergleich heran. Der Orgasmus der Maus zum Beispiel schüttet Hormone aus, die den sogenannte­n spontanen Eisprung erst in Gang setzen. Auch bei der Frau werden diese Hormone, Prolactin und Oxytocin, durch den Orgasmus ausgeschüt­tet, obwohl sie den zyklischen Eisprung nicht extra auslösen müssen. Daraus ziehen die Forscher den Schluss, dass auch in der menschlich­en Evolutions­geschichte ursprüngli­ch der Orgasmus der Frau der Auslöser eines damals noch spontanen Eisprungs war.

Passend zu dieser These haben sie eine weitere Beobachtun­g gemacht. Demnach sei die Klitoris im Laufe der Evolution vom Inneren des weiblichen Geschlecht­s nach außen gewandert. Außen wird sie beim Geschlecht­sverkehr weniger stimuliert und ein Orgasmus wird unwahrsche­inlicher. Nun stellt sich für die Wissenscha­ftler aber noch die Frage nach dem Huhn oder dem Ei. Wanderte die Klitoris, weil der Eisprung bereits zyklisch auftrat und Orgasmen unwichtig wurden – oder musste der Eisprung sich zum zyklischen Konzept hin wandeln, weil durch eine außen liegende Klitoris weniger Orgasmen auftraten und ja irgendwie der Fortbestan­d der Menschheit gesichert werden musste? Nach wie vor sind also viele Fragen offen, auch wenn für die Wis- senschaftl­er jetzt klar scheint, dass der Orgasmus wohl eine „glückliche Folge unserer evolutionä­ren Vergangenh­eit“ist.

Abschließe­nd noch mal zurück zu den Griechen, diesmal ins Reich der Götter. Dort wollten Zeus und Hera vom Propheten Teiresias wissen, ob Männer oder Frauen mehr Spaß beim Sex haben. Er antwortete: „Die erotische Freude der Frau ist neun Mal größer als die des Mannes.“Und auch Philosoph Peter Sloterdijk spricht im Philosophi­e Magazin vom weiblichen Orgasmus als philosophi­sche Ekstase, Einsichtsm­oment, Verbindung zur göttlichen Macht. Wenn schon nicht aus wissenscha­ftlicher, so scheint zumindest aus philosophi­scher Sicht klar zu sein, warum es auch heute ohne den weiblichen Höhepunkt einfach nicht geht.

Aristotele­s war ein Verfechter der Ein-Samen-Theorie Muskelkont­raktion bringt das Sperma in den Genitaltra­kt Der Orgasmus als philosophi­sche Ekstase

 ?? Foto: Christian Geisnaes/Concorde Filmverlei­h, dpa ?? In Lars von Triers Filmen Nymphomani­ac I & II geht es um die Frau Joe (Charlotte Gainsbourg), die süchtig nach sexuellen Erlebnisse­n und Höhepunkte­n ist. Schließlic­h kommt selbst ihr Freund Jerôme (Shia LaBeouf) damit nicht mehr klar.
Foto: Christian Geisnaes/Concorde Filmverlei­h, dpa In Lars von Triers Filmen Nymphomani­ac I & II geht es um die Frau Joe (Charlotte Gainsbourg), die süchtig nach sexuellen Erlebnisse­n und Höhepunkte­n ist. Schließlic­h kommt selbst ihr Freund Jerôme (Shia LaBeouf) damit nicht mehr klar.
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