Deutschland, Deutschland über alles …
Die Geschichte unserer Nationalhymne erzählt viel zu der Frage: Was ist guter, was ist böser Patriotismus?
Das Jubiläumsjahr ist zugleich eines dieser Rekordjahre. Bei jedem deutschen Spiel der Fußball-EM und auch zu den 17 deutschen Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen – jedes Mal hatte die Hymne ihren großen Auftritt. Und immer wieder gibt es Diskussionen. Weil der deutschtürkische Kicker Mesut Özil – anders als die türkischen Türken ihre Hymne – mal wieder nicht mitgesungen hat. Und weil sich der Diskus-Werfer Christoph Harting auf dem Siegerpodest so völlig andachtslos verhalten hat, herumhampelte, mitpfiff und auch noch sagte, es tue ihm ja leid, aber zu der Hymne könne man nun mal nicht tanzen. Währenddessen ist die Inbrunst groß, wenn sie zum Abschluss der Wahlkampfveranstaltungen der AfD in Mecklenburg-Vorpommern angestimmt wird, diese Hymne, „Das Lied der Deutschen“: „Einigkeit und Recht und Freiheit …“
Aber freilich, das ist ja eigentlich erst die dritte und letzte Strophe des Textes, den der Germanist Heinrich Hoffmann von Fallersleben morgen vor 175 Jahren erdichtet hat. Und längst vor dem Verbot der beiden anderen Strophen nach dem Ende der Naziherrschaft ist die Frage über guten und bösen Patriotismus diesem Lied wie eingeschrieben.
Das beginnt schon damit, dass der Dichter während des Verfassens der Strophen, die er für vier Louisdors (auf heute umgerechnet etwa 800 Euro) an den Verleger Julius Campe verkaufte, auf Helgoland weilte. Die Insel war damals, im Jahr 1841, ja britisch. Und sein „Deutschland, Deutschland, über alles / über alles in der Welt“, das er zur Melodie von Joseph Haydns „Gott erhalte Franz, den Kaiser“geschrieben hatte, meinte die fast 40 Königreiche, Großherzogtümer, Grafschaften, Fürstentümer und Hansestädte, in denen seinerzeit Deutsch gesprochen wurde, die aber eben noch keine Nation bildeten. Aber Hoffmann von Fallersleben ging ja noch weiter. Er dichtete „von der Maas bis an die Memel“: Die Maas durchfloss das Herzogtum Limburg im heutigen Belgien, die Memel markierte damals die Nordgrenze von Ostpreußen, die heutige russische Region Kaliningrad. „Von der Etsch bis an den Belt“: Die Etsch in Südtirol gehörte damals zu Österreich und heute zu Italien, der Kleine Belt markierte seinerzeit die Nordgrenze des Herzogtums Schleswig im heutigen Dänemark. Was für ein Nationalist war er also eigentlich?
Er war ein kritischer, liberaler Oppositioneller, gerade wegen seines Engagements für ein einheitliches Deutschland, das dem Professor im Jahr darauf die Entlassung Pension von der preußischen Regierung einbrachte – und wieder ein Jahr später sogar den Entzug der preußischen Staatsbürgerschaft und den Landesverweis. Und doch war er auch ein nationaler Chauvinist: Die Franzosen etwa schmähte er als „Scheusale der Menschheit“und „tolle Hunde“; den Juden hielt er in seinem Gedicht „Emancipation“vor: „Willst du von diesem Gott nicht lassen, nie öffne Deutschland dir sein Ohr“. Der Philosoph Friedrich Nietzsche bezeichnete 1884 sein „Deutschland, Deutschland über alles“denn auch als „blödsinnigste Parole der Welt“. Es war aber dann ein Sozialdemokrat, Reichspräsident Friedrich Ebert, der Hoffmanns „Lied der Deutschen“am 11. August 1922 zur Nationalhymne erklärte. Allerdings vor allem durch Bezug auf die dritte Strophe: „Einigkeit und Recht und Freiheit! Dieser Dreiklang aus dem Liede des Dichters gab in Zeiten innerer Zersplitterung und Unterdrückung der Sehnsucht aller Deutschen Ausdruck; es soll auch jetzt unseren harten Weg zu einer besseren Zukunft begleiten.“Guter Patriotismus.
Das „Deutschland über alles!“aber war bereits im Ersten Weltkrieg als Schlachtruf deutscher Soldaten bekannt – geboren aus dem Mythos, bei dem deutsche Soldaten, dieses Lied singend, am 10. November unter schwersten Verlusten französische Stellungen in der Nähe des belgischen Langemarck erohne stürmt hatten. Und so beschimpfte es Kurt Tucholsky noch 1928 als „törichten Vers eines großmäuligen Gedichts. Nein, Deutschland steht nicht über allem und ist nicht über allem – niemals. Aber mit allen soll es sein, unser Land.“
Adolf Hitler wiederum jubilierte ergriffen: „So ist es denn gerade auch dieses Lied, das uns Deutschen am heiligsten erscheint, ein großes Lied der Sehnsucht.“Und erklärte: „Viele in anderen Völkern verstehen es ja nicht, sie wollen gerade in jenem Lied etwas Imperialistisches erblicken, das doch vom Imperialismus am weitesten entfernt ist. Denn welch schönere Hymne für ein Volk kann es geben als jene, die ein Bekenntnis ist, ein Heil, sein Glück in seinem Volke zu suchen und sein Volk über alles zu stellen, was es auf dieser Erde gibt.“Das war 1937. 1940 dann verboten die Nationalsozialisten die zweite und dritte Strophe, statt „Deutsche Frauen, deutsche Treue / Deutscher Wein und deutscher Sang…“und „Einigkeit und Recht und Freiheit / Für das deutsche Vaterland …“folgte nun das Horst-Wessel-Lied der SA.
So wurde Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“zur „Nazi-Hymne“und als solche nach Kriegsende verboten – eindeutig böser Patriotismus. Auf den bezog sich höchstens noch die Deutsche Reichspartei beim illegalen Absingen auf einer Kundgebung 1948 in Wolfsburg. Dass sich nach dem überraschenden Triumph der Fußball-Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 1954, also zum deutschen „Wunder von Bern“, mancherorts das Verbotene gesungen gesellte, war dagegen wohl nur Überschwang einer nach Selbstbewusstsein dürstenden Nation. Denn zwei Jahre zuvor war ja ausdrücklich und ausschließlich die dritte Strophe zur Nationalhymne der Bundesrepublik gemacht worden – durch zwei Briefe zwischen Theodor Heuss und Konrad Adenauer.
So wurde es denn dieses „Einigkeit und Recht und Freiheit“, das nicht nur zum Fußball und Olympia große Auftritte bekam, sondern auch, als am 9. November 1989 die Nachricht vom Mauerfall im Bonner Parlament eintraf. Da erhoben sich die meisten (wenn auch nicht alle) Abgeordneten und sangen das Deutschlandlied. Ende der zwiespältigen Geschichte – Happy End?
Nicht ganz. Denn gleich zur Wiedervereinigung ein Jahr später wurde Hoffmann von Fallerslebens Schöpfung noch einmal heiß diskutiert. Angeboten hätte sich ja auch die DDR-Hymne „Auferstanden aus Ruinen“, die Nationalgefühl mit der Hoffnung auf Frieden und Sonne für Deutschland vereint. Weil zudem in deren erster Strophe das Wende-Motto „Deutschland, einig Vaterland“steht. Doch Bundespräsident von Weizsäcker und Bundeskanzler Kohl beharrten auf dem Deutschlandlied.
Eine Hymne zwischen gut und böse – es gibt also reichlich zu bedenken in den 80 Sekunden, die sie bei EM, WM und Olympia dauert. Ob man nun mitsingt oder nicht, ließe sich reflektieren auch darüber: Seit 2000 gibt es eine türkischsprachige Version des Deutschlandlieds, aufgenommen vom Es beginnt: „Vatanimiz Almanya için / Birlik, Adalet, Özgürlük…“– ob so was hilft? Ob demnächst weitere Versionen folgen sollten? Als zuverlässig erwies sich nur, dass es Streit darum gab.