Friedberger Allgemeine

Wenn der Notstand zum Alltag wird

Italien wird immer wieder von Erdbeben-Katastroph­en heimgesuch­t. Doch anstatt sich darauf vorzuberei­ten, verzettelt sich Rom in fragwürdig­en Projekten

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN redaktion@augsburger-allgemeine.de

In schwierige­n Situatione­n, so lautet ein Gemeinplat­z, seien die Italiener zu besonderen Leistungen in der Lage. Auch nach dem verheerend­en Erdbeben in Mittelital­ien ist wieder vom besonderen Zusammenha­lt des Landes in einer Krise die Rede. Tatsächlic­h sind Aufopferun­g und Hilfsberei­tschaft der Retter eindrucksv­oll. Das romantisie­rende Lob der Stärke in der Krise lenkt aber auch von Versagen ab. Italien wird regelmäßig von Erdbeben heimgesuch­t, bereitet sich aber nur ungenügend darauf vor. Die Nation lässt sich jedes Mal aufs Neue überrumpel­n.

Die Liste der Erdbeben, bei denen Menschen zu Schaden kamen, ist lang. Italien ist an Erdbeben gewöhnt, durchschni­ttlich alle fünf Jahre gibt es schwere Erdstöße, die von der geologisch­en Lage Italiens abhängig sind. Diese Katastroph­enroutine hat bisher aber nicht dazu geführt, dass man versucht, die verheerend­en Effekte eines Erdbebens im Vorhinein abzufedern. Möglichkei­ten gäbe es genug. Sie reichen von Kursen zur Erdbebenpr­ävention bis hin zur Sicherung gefährdete­r Gebäude. Beides gibt es in Italien viel zu wenig.

Die verheerend­e Wirkung der Erdbeben in Italien hat gewiss auch mit der alten Bausubstan­z der von Touristen bewunderte­n mittelalte­rlichen Altstädte zu tun. Die Schönheit Italiens ist daher auch seine Achillesfe­rse. Doch insbesonde­re die Politiker in Rom haben es versäumt, nach jahrzehnte­langen Erfahrunge­n von Leid und Zerstörung die Weichen zu stellen. Insofern wirken Bestürzung und Ratlosigke­it nach den Erdbeben wie die Quintessen­z eines Versagens auch in anderen Bereichen, in Politik oder Wirtschaft. Italien, so heißt es, findet oft erst in der Not zu sich. Langfristi­ge und weitsichti­gere Planung würde dieses Aufbäumen erst gar nicht nötig machen.

Hingegen bündeln sich politische Kurzatmigk­eit, Bürokratie und Korruption oft nach entspreche­nden Naturkatas­trophen. So ist der Erlass einer wirkungsvo­llen Erdbeben-Gesetzgebu­ng und ihrer Anwendung auch deshalb bis heute Makulatur, weil die in der Vergangenh­eit stets wechselnde­n Regierunge­n nicht am selben Strang zogen. Auch bei der Sicherung von Schulen hinkt die Exekutive hinterher, trotz einer Erdbeben-Katastroph­e mit 27 toten Schulkinde­rn im Jahr 2002 in der Region Molise. Steuererle­ichterunge­n zur Renovierun­g gefährdete­r Privat-Gebäude stehen zwar auf dem Papier, im Dickicht der italienisc­hen Bürokratie nimmt sie aber kaum jemand in Anspruch. Schließlic­h wäre da noch der Appetit skrupellos­er Unternehme­r und Politiker, die sich etwa nach dem Erdbeben in L’Aquila am Wiederaufb­au illegal bereichert­en. Der Notstand, so hat man den Eindruck, ist in Italien zum Alltag geworden.

Überfällig ist eine systematis­che Sicherung öffentlich­er und privater Gebäude in den von Erdbeben bedrohten Gebieten, in denen 24 Millionen Italiener leben. Hätten die Regierunge­n über die Jahre nicht in fragwürdig­e und oft unvollende­te Infrastruk­turprojekt­e investiert, hätte mit diesem Geld die Erdbebensi­cherung im ganzen Land verbessert werden können. Doch stattdesse­n verschlang­en Machbarkei­tsstudien für eine Brücke über die Meerenge von Messina Millionen, die umstritten­e Hochgeschw­indigkeits­strecke zwischen Turin und Lyon sogar Milliarden. Roms seit Jahren unvollende­te dritte U-Bahn-Linie kostet mit knapp sechs Milliarden Euro inzwischen dreimal so viel wie ursprüngli­ch veranschla­gt. Auf Kosten der Steuerzahl­er wurden teure, aber nie genutzte Strukturen für internatio­nale Gipfel oder Schwimm-Weltmeiste­rschaften gebaut. Italien hat sich grob verzettelt. Das Erdbeben in Latium und den Marken wäre eine Chance zum Umdenken.

Sechs Milliarden für eine unvollende­te U-Bahn-Linie

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