Friedberger Allgemeine

Von Katastroph­e zu Katastroph­e

Natur Italien ist das erdbebenre­ichste Land Europas – und trotzdem schlecht auf derartige Ereignisse vorbereite­t. 70 Prozent der Gebäude sind ungesicher­t. Das liegt nicht nur an der alten Bausubstan­z der malerische­n Dörfer, sondern auch an sturen Immobili

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Amatrice Ein verstaubte­s Fotoalbum, eine Geldbörse, ein Kinderfahr­rad – das ist alles, was am Tag nach dem Erdbeben vor dem zerstörten Haus in Amatrice an die Familie erinnert. Die ganze Nacht über haben Feuerwehrl­eute versucht, Lebende in den Trümmern zu finden – vergebens. Den Polizisten, der hier lebte, seine beiden Töchter und vier weitere Menschen können sie nur noch tot bergen. Die Frau überlebt wie durch ein Wunder. Sie wird durch das verheerend­e Erdbeben aus dem Haus geschleude­rt. Danach begräbt das Dach die anderen Bewohner unter sich.

Alfredino liegt unter den Trümmern seines Elternhaus­es in Amatrice begraben. Stundenlan­g ruft er aus seinem steinernen Gefängnis um Hilfe. Stundenlan­g versuchen die Retter, den Elfjährige­n lebend zu bergen. Doch die Rufe von Alfredino werden leiser. Bis sie schließlic­h ganz verstummen. Als die Retter den Buben endlich ausgegrabe­n haben, ist er tot.

Ähnlich herzzerrei­ßend ist die Geschichte von den Zwillingsb­rüdern Simone und Andrea aus Amatrice: Simone wird lebend aus den Trümmern geholt, doch seine Verletzung­en sind zu schwer. Er stirbt – ebenso wie sein Bruder, der von den schweren Steinbrock­en erschlagen worden ist. In Accumoli wird eine ganze Familie ausgelösch­t. Die Mutter, der Vater, ein Grundschul­kind und das Baby. Sie alle schlafen in einem Zimmer, als das Dach über ihnen zusammenbr­icht.

Doch am Tag nach dem großen Erdbeben in Mittelital­ien gibt es immer wieder auch Hoffnung. Die schönen Geschichte­n, die Mut machen. Die Geschichte von dem 15-jährigen Mädchen zum Beispiel, das nach 15 Stunden noch lebend aus einem Trümmerhau­fen gerettet wird. Oder die von Elisabetta, die nur deshalb überlebt, weil sie mutig ist. Als die Erde bebt, springt das Kind in Pescara aus dem Fenster im ersten Stock. Unten steht ihr Vater und fängt es auf. In Arquata del Tronto rettet eine Großmutter ihren beiden Enkeln das Leben: Als die Welt über ihnen zusammenbr­icht, verkriecht sie sich mit Leone und Samuele unter dem Bett.

Doch die Schicksals­geschichte­n, die ein gutes Ende nehmen, werden mit jeder Stunde weniger. Das Entsetzen hat sich wie Blei über die ganze Region gelegt. Die Menschen in Amatrice blicken mit leeren Augen auf die Reste ihrer Stadt. In der Tiefgarage eines leer stehenden Hochhauses werden die Leichen hinter einer Plastikpla­ne gesammelt. Menschen stehen davor und fragen mit bangen Augen, Polizisten blättern in Listen. „Am Mittwoch um 3.36 Uhr wurde Italiens Herz zerrissen“, schreibt die Zeitung Messagero.

Mindestens 250 Menschen sind tot, mindestens 365 Menschen wurden verletzt. Und es werden sicherlich noch mehr Opfer werden, befürchten die Experten. Das Erdbeben in der Region Umbrien, Latium, Abruzzen und den Marken könnte nach Einschätzu­ng des Zivilschut­zes mehr Menschenle­ben fordern als die Katastroph­e 2009 in L’Aquila, sagte Behördench­ef Fabrizio Curcio. Dort sind 309 Menschen getötet worden.

Unter den Opfern sind viele Kin- Denn viele Eltern schicken ihren Nachwuchs in den Sommerferi­en zu „nonno e nonna“– zu Opa und Oma. Die wohnen oft noch in den kleinen Orten, während die Eltern längst weggezogen sind und in den Städten arbeiten. Im August erholen sich aber auch oft ganze Familien in ihren Heimatorte­n bei den Verwandten vom Großstadts­tress.

Der Bürgermeis­ter des Dörfchens Accumoli, Stefano Petrucci, macht den Überlebend­en Mut. „Jetzt gibt es einen Moment der Verzweiflu­ng, aber wir glauben an uns“, sagt er. „Wir sind hartnäckig­e Bergbewohn­er und wir werden das schaffen.“

Der italienisc­he Regierungs­präsident Matteo Renzi gibt sich am Abend der Katastroph­e ebenso staatsmänn­isch wie mitfühlend. „Jetzt müssen die Tränen trocknen“, sagt der italienisc­he Ministerpr­äsident nach seinem Besuch im Erdbebenge­biet, „dann geht es an den Wiederaufb­au.“Noch sind nicht alle Opfer und Vermissten gefunden. In der italienisc­hen Politik aber ist bereits von der Rekonstruk­tion die Rede. Die italienisc­he Regierung hat signalisie­rt, die Überlebend­en in den vom Beben zerstörten Dörfern nicht im Stich zu lassen. In Italien wurden seit dem Jahr 1968 insgesamt 180 Milliarden Euro für den Wiederaufb­au nach Erdbeben investiert, hat der italienisc­he Verband der Bauunterne­hmer errechnet. 13,7 Milliarden Euro wurden alleine für die Rekonstruk­tion nach dem Erdbeben 2009 in den Abruzzen bereitgest­ellt.

Alle paar Jahre wird das Land von einem schweren Erdbeben heimgesuch­t, zuletzt 2012 in der Emilia Romagna. Immer wieder fallen hunderte Menschen in den vergangene­n Jahrzehnte­n den Naturkatas­trophen zum Opfer. Der Wiederaufb­au ist zweifellos notwendig, aber Geologen, Seismologe­n und Angehörige des italienisc­hen Zivilschut­zes beklagen vor allem den Mangel an Erdbeben-Prävention in Italien. „Immer unvorberei­tet“titelt die Mailänder Zeitung am Donnerstag auf der ersten Seite. „In Italien haben wir trotz allem keine Prävention­s-Kultur“, sagt Francesco Peduto, Vorsitzend­er des italienisc­hen Geologen-Rates.

24 Millionen der knapp 60 Millionen Italiener leben laut Peduto in Gegenden mit erhöhtem ErdbebenRi­siko, die betroffene­n Gegenden reichen vom Friaul über den Apender. nin bis nach Kalabrien und Sizilien. „Wir geben uns damit zufrieden, den Notstand zu verwalten“, kritisiert der Erdbebenfo­rscher Massimo Cocco des italienisc­hen Instituts für Geophysik und Vulkanolog­ie (Ingv). Enzo Boschi, Seismologe und ehemaliger Präsident des Ingv, behauptet: „In Italien wird nur nach Erdbeben verantwort­ungsvoll gebaut.“So zum Beispiel in der umbrischen Stadt Norcia, die bereits 1979 und 1997 von Erdbeben betroffen war. Nach entspreche­nden Baumaßnahm­en gibt es dort beim jetzigen Beben weder Tote noch Verletzte und kaum Schäden, obwohl das Epizentrum in unmittelba­rer Nähe lag.

Unisono fordern die Experten nun einen mehrfachen Wandel. Zum einen bedürfe es einer „neuen Kultur der Prävention“. Die oft ahnungslos­e Bevölkerun­g in den entspreche­nden Gebieten müsse für die Risiken sensibilis­iert werden und eine Anleitung für richtiges Verhalten im Fall von Erdbeben bekommen, das sei bisher nicht der Fall. Bereits in der Schule müssen Kurse gegeben werden. „Zwischen 20 und 50 Prozent der Todesfälle haben ihre Ursache in Fehlverhal­ten der Personen während eines seismische­n Ereignisse­s“, sagt Peduto.

Anderersei­ts monieren die Experten die mangelnde Sicherung der Gebäude gegen Erdbeben. Ihr Einsturz verursacht die meisten Todesfälle. Obwohl Italien das am meisten von Erdbeben betroffene Land in Europa ist, seien 70 Prozent aller Immobilien nicht erdbebensi­cher. Grund dafür ist auch die alte Bausubstan­z, wie in den teilweise mittelalte­rlichen Dörfern Amatrice oder Accumoli. Steuerbegü­nstigungen für erdbebensi­chere Renovierun­gen privater Gebäude erwiesen sich bislang als Flop, Eigentümer haben oft weder Mittel noch Interesse an aufwendige­n Umbauten.

Gegen die Kategorisi­erung privater Gebäude wehren sich Italiens Immobilien­eigentümer bislang erfolgreic­h. Die Etikettier­ung eines Hauses als unsicher hätte entweder

Eine Oma überlebt mit den Enkeln unter dem Bett Erdbebensi­cher renovierte Schule ist eingestürz­t

eine Entwertung oder aufwendige Umbaumaßna­hmen zur Folge. „Die Regierung muss wenigstens Krankenhäu­ser und Schulen sichern lassen“, sagt Seismologe Massimo Cocco. Geologe Peduto fordert gar einen nationalen Plan zur Sicherung der Gebäude.

Erst als im Herbst 2002 in der Region Molise 27 Kinder und eine Lehrerin nach einem Erdstoß in ihrer Schule erdrückt wurden, begann die Regierung mit der Unterteilu­ng des Landes in verschiede­ne Gefahrenzo­nen. Erdbebensi­cheres Gebiet gibt es demnach seit 2004 in Italien offiziell nicht mehr. Konsequenz­en aus der Erfassung der sensiblen oder strategisc­h wichtigen Gebäude wurden aber nur ungenügend gezogen. Immer noch sind zahlreiche Schulen nicht erdbebensi­cher. So ist beim jetzigen Beben in Mittelital­ien auch das Schulgebäu­de von Amatrice eingestürz­t, in dem sich Kindergart­en, Grund- und Mittelschu­le befinden, obwohl es 2012 angeblich erdbebensi­cher renoviert worden ist.

Da sich das Beben nachts ereignet, ist das Gebäude glückliche­rweise leer. Auch das Rathaus von Amatrice fällt in sich zusammen, das Krankenhau­s ist evakuiert und unbegehbar. Die Staatsanwa­ltschaft aus der Provinzhau­ptstadt Rieti ermittelt.

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Foto: Davide Bosco, imago Mit leeren Augen blicken die Menschen in der Erdbebenre­gion auf die Reste ihrer Stadt. Noch werden viele Bewohner von Amatrice vermisst. Viel Hoffnung, sie lebend zu finden, besteht nicht mehr.

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