Friedberger Allgemeine

Der Amokläufer nahm ihm die Schwester

Der 21-jährige Arbnor Segashi verliert bei der Bluttat in München den wichtigste­n Menschen in seinem Leben. Warum er den Mörder nicht hasst und wie die Familie mit dem Tod der 14-Jährigen umgeht

- VON EVELIN GRAUER Foto: Segashi

Altomünste­r-Pipinsried/München Es ist die Nacht nach dem Amoklauf. Arbnor Segashi irrt zwölf Stunden lang in München umher: von einem Krankenhau­s zum anderen, zu den Vermissten­stellen, zur Polizei. Nirgends eine Spur seiner Schwester Armela. Sie hatte sich mit einer Freundin im Olympia-Einkaufsze­ntrum (OEZ) verabredet. Über Facebook und andere soziale Medien bittet ihr Bruder seine Freunde und Mannschaft­skollegen um Hilfe. Segashi spielt seit dieser Saison beim Fußball-Bayernligi­sten FC Pipinsried im Landkreis Dachau. Jeder, der Informatio­nen habe, solle sich melden. Fehlanzeig­e. Dann, am nächsten Morgen kurz nach 6 Uhr, klingelt Segashis Handy. Sein Vater sagt, er solle nach Hause kommen: Es sei alles vorbei.

Arbnor Segashi ahnt, dass seine Schwester tot ist. Aber er hofft bis zuletzt, dass sie zu Hause bei der Familie auf ihn wartet. Als er in der Wohnung im Münchner Norden ankommt und von Kriminalpo­lizisten, Psychologe­n und Sanitätern empfangen wird, weiß der 21-Jährige, dass der Amokläufer von München auch seine Schwester erschossen hat. „Es ist der schlimmste Tag in meinem Leben. Meine kleine Schwester war der Mensch, den ich am meisten geliebt habe“, erzählt er. Die Familie steht unter Schock. Auch Arbnor, er kann nicht weinen. Gut einen Monat nach der Tat erzählt er äußerlich sehr gefasst von den unbeschrei­bbaren, fast unwirklich­en Ereignisse­n.

Die 14-jährige Armela war zum ersten Mal allein, das heißt ohne Familie oder große Schwester, im OEZ. Zusammen mit ihrer Freundin Sabina, 15, saß sie im oberen Stockwerk des McDonald’s-Restaurant­s. Der Amokläufer kam offenbar aus der Toilette und feuerte auf die Mädchen. Beide starben – wie sieben andere Menschen und der Amokläufer selbst.

Arbnor Segashi beschreibt seine Schwester als unglaublic­h liebevolle­n und stets glückliche­n Menschen. Durch ihre offene und herzensgut­e Art habe sie allen ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. „Ihre Anwesenhei­t war pures Glück“, sagt der Bruder. Sie war bei jedem seiner Spiele dabei – und so ist es nicht verwunderl­ich, dass er sie am meisten vermisst, wenn er Fußball spielt. Armela ging auf die Erich-KästnerRea­lschule in München. Sie liebte es, sich und andere zu schminken und zu stylen, und träumte davon, später einmal ein eigenes Kosmetikst­udio zu haben.

Ihr Bruder studiert Sportmanag­ement an der Hochschule in Erding. Die Familie stammt aus dem Kosovo; dort wurde Armela auch beerdigt. Segashis Mannschaft­skollegen haben für die Überführun­g gespendet. Armela hatte einen deutschen Pass. Arbnor Segashi ist offiziell Kosovare, aber ebenfalls in München geboren. Der 21-Jährige bezeichnet den Tod seiner Schwester als „unfassbar schweren Schicksals­schlag“. Dagegen sei die Familie machtlos: „Es war einfach Schicksal. Das war ihr Zeitpunkt. Wir hätten es nicht verhindern können.“

Wenn Segashi an den 18-jährigen Täter denkt, empfindet er keinen Hass. „Ich spüre gar nichts für ihn“, erklärt er. Natürlich würde er ihn, wenn er noch am Leben wäre, fragen, warum gerade seine Schwester? Aber er wüsste, dass jede Antwort, die er geben könnte, falsch wäre. Und keine Antwort würde ihm seine Schwester zurückbrin­gen. Trotzdem sei es der falsche Weg, den Täter zu hassen, denn Hass sei genau das, was den 18-Jährigen zu seiner Tat getrieben habe. Nach allem, was man über den Deutsch-Iraner weiß, wurde er in der Schule oft schikanier­t und fand nur schwer Anschluss. Da unter seinen Peinigern viele Ausländer gewesen sein sollen, entwickelt­e er offenbar einen Hass auf diese. Segashi ist wichtig, dass die Ursachen solcher Taten bekämpft werden. Gerade auf Mobbing sollte wieder mehr geachtet werden, findet er. Dass die Eltern des Amokläufer­s bedroht werden, ist nicht in seinem Sinn. Er würde sich gerne mal mit ihnen zusammense­tzen und ihnen sagen, dass seine Familie ihnen nicht die Schuld an dem gibt, was geschehen ist.

Der Glaube, die Familie, Freunde und die Mannschaft helfen Segashi, den Tod seiner Schwester zu verarbeite­n. Psychologi­sch betreut wird derzeit keiner aus der Familie. „Ich habe gesehen, wie viele tolle Menschen ich in meinem Umfeld habe“, sagt er über die große Unterstütz­ung. Jeder Einzelne und auch ganz München haben versucht zu helfen. „Den Bürgern dieser Stadt wird oft

Sie war zum ersten Mal allein unterwegs Seine Mutter will, dass die Erinnerung bleibt

zu Unrecht Arroganz nachgesagt.“Dass der Student so offen mit dem Tod seiner Schwester umgeht und auch im Fernsehen darüber spricht, hat einen Grund. Seine Mutter will, dass der Amoklauf niemals in Vergessenh­eit gerät. Da er versucht, seinen Eltern und seiner 18-jährigen Schwester so viel Last wie möglich abzunehmen, sieht er es als seine Aufgabe, die Erinnerung wachzuhalt­en.

Er sagt auch, er lebe seit dem Amoklauf bewusster. Er habe erfahren, wie schnell das Leben zu Ende gehen kann – auch wenn man nichts Böses tue. Die Bindung zur Familie ist stärker geworden. Er dankt Gott für jeden Tag, den er leben darf.

Fast jeden zweiten Abend seit dem Amoklauf fährt Arbnor Segashi zum Olympia-Einkaufsze­ntrum, legt Blumen nieder oder zündet eine Kerze an. Und hofft dabei, dass die Familie genug Kraft hat, diesen Verlust zu ertragen. Schließlic­h wollen sie ihren „Engel“, der von oben auf sie schaut, stolz machen.

 ??  ?? Armela Segashi und ihr Bruder Arbnor standen sich sehr nahe. Die 14-Jährige wurde am 22. Juli beim Amoklauf am Münchner Olympia-Einkaufsze­ntrum erschossen. Ganz besonders vermisst ihr Bruder das fröhliche Lachen seiner Schwester.
Armela Segashi und ihr Bruder Arbnor standen sich sehr nahe. Die 14-Jährige wurde am 22. Juli beim Amoklauf am Münchner Olympia-Einkaufsze­ntrum erschossen. Ganz besonders vermisst ihr Bruder das fröhliche Lachen seiner Schwester.

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