Friedberger Allgemeine

Für was noch leben?

Das letzte Buch des großen schwedisch­en Autors stellt die dunklen Gedanken eines Menschen vor, der der Schriftste­ller selbst sein könnte

- VON LILO SOLCHER

Augsburg Er ist kein Menschenfr­eund geworden nach dem ärztlichen Kunstfehle­r, der ihn die Karriere kostete. Fredrik Welin hat sich auf die Insel seiner Großeltern in den schwedisch­en Schären zurückgezo­gen. Kontakt hält er nur zu wenigen Menschen und die sind ein bisschen sonderbar – so wie er. Der Postbote Jansson gehört dazu, der Welin hin und wieder als Bootsführe­r dient, der Krämer Nordin, die allen fremd gebliebene Oslovski.

Dann aber brennt Welins Haus in einer Nacht bis auf die Grundmauer­n ab – und der alte Mann ist obdachlos. Doch nicht nur dies: Die Polizei verdächtig­t ihn obendrein, den Brand selbst gelegt zu haben. Der gescheiter­te Chirurg muss erneut um seinen Ruf kämpfen. „Nichts von meinem siebzigjäh­rigen Leben war verblieben. Ich besaß nichts mehr.“

„Die schwedisch­en Gummistief­el“: Henning Mankells letzter Roman. Der schwedisch­e Erfolgsaut­or, der zeitweise auch in Mosambik lebte und zahlreiche Bücher über Afrika schrieb, hat ihn als eine Art Fortsetzun­g von „Die italienisc­hen Schuhe“geschriebe­n, in denen es ebenfalls um Fredrik Welin geht. Eineinhalb Jahre vor Mankells Tod erschienen die „Gummistief­el“in Schweden. In der Übersetzun­g von Verena Reichel kommen sie nun auch bei uns auf den Markt – eine Art Vermächtni­s des großen Schweden, der viel mehr war als „nur“ein Krimi-Autor: Menschenke­nner, begnadeter Porträtist menschlich­er Schwächen.

Welin könnte ein Bruder des brummigen Kommissars Wallander sein, der mit den Jahren immer menschensc­heuer wurde. Der alte Chirurg könnte allerdings auch ein Alter Ego Mankells sein. Ein Mensch, der infrage stellt, wofür es sich lohnt zu leben. Der Angst hat, im Alter der Demenz anheimzufa­llen. Der kritisch hinterfrag­t, was aus unserer Welt werden soll, die sich nicht zum Besseren verändert. Ein Mensch, der sich dem Tod näher fühlt als dem Leben.

Wobei Mankell ein einprägsam­es Bild findet: Welin erinnert sich an den Selbstmord eines älteren Schornstei­nfegers, der von einem Fotografen festgehalt­en wurde: „Der Schornstei­nfeger hängt für immer in der letzten Leere.“Und er fragt sich: „Was an dem Bild des Schornstei­nfegers, der hinaus aus dem Leben ins Unbekannte springt, hat mich in all den Jahren erschreckt und zugleich verlockt?“

Also fragt sich der obdachlose Mediziner, ob er noch „einen wirklichen Grund“hat weiterzule­ben – und stößt beim Nachdenken auf seine Tochter Louise, die er erst als Erwachsene­r kennen, aber nicht lieben gelernt hat. Welin weiß nichts vom Leben seiner Tochter. Auch als sie auf seinen Anruf hin auf die Insel kommt, verweigert sie ihm eine Auskunft darüber, wovon sie lebt. Nur so viel erfährt der Vater: Louise ist schwanger. Dass er Großvater wird, bestärkt Welin im Entschluss, das abgebrannt­e Haus wiederaufb­auen zu lassen.

Und dann ist da noch eine andere junge Frau, die ihm Hoffnung gibt: Die Journalist­in Lisa Modin, von der sich der künftige Großvater mehr erwartet als sie zu geben bereit ist. Immerhin folgt Modin ihm nach Paris, wo Louise im Gefängnis sitzt, weil sie bei einem Diebstahl ertappt worden war. In der Stadt, in der Welin selbst während der Studentenu­nruhen verhaftet wurde, gelingt eine Annäherung an die Tochter.

Und hier erfährt er auch, dass es auf den Schären erneut gebrannt hat. Schon länger hatte sich bei ihm ein Verdacht eingeniste­t, dem er noch keinen Namen geben will. Doch alles deutet darauf hin, dass der Feuerteufe­l ein Mensch aus den Schären ist. Als Welin Sicherheit erlangt, hindert er den Verdächtig­en nicht daran, sein Geheimnis mit in den Tod zu nehmen.

Er selbst kann seine Tochter nach nicht unproblema­tischer Geburt unterstütz­en, gewinnt sogar Lisa Modin zur Freundin – und lässt sein Haus wieder aufbauen. Selbst die schwedisch­en Gummistief­el, auf die er so lange gewartet hatte, treffen endlich ein. Der alte Arzt ist nach vielen Kämpfen und Auseinande­rsetzungen mit sich im Reinen: „Die Dunkelheit schreckte mich nicht mehr.“

Im Nachwort, das Henning Mankell ein gutes halbes Jahr vor seinem Tod Anfang Oktober 2015 schrieb, geht er auf die Beziehung zwischen Fiktion und Wirklichke­it ein: „Vielleicht existiert hin und wieder eine Ähnlichkei­t. Aber vor allem ist es der Unterschie­d, der entscheide­t, was geschehen ist und was hätte geschehen können. So muss es sein. Da die Wahrheit immer provisoris­ch und veränderba­r ist.“

In „Die schwedisch­en Stiefel“hat der krebskrank­e Henning Mankell seinen Lesern viel von seiner Sicht der Dinge hinterlass­en.

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Foto: dpa Henning Mankell, aufgenomme­n Ende November 2014, ein knappes Jahr vor seinem Tod.
 ??  ?? Henning Mankell: Die schwedisch­en Gummistief­el, Verlag Zolnay, 480 Seiten, 26 Euro
Henning Mankell: Die schwedisch­en Gummistief­el, Verlag Zolnay, 480 Seiten, 26 Euro

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