Die Tragik des Königs
Muss die bayerische Geschichte mit dem Auftauchen des vermutlich letzten Briefes Ludwigs II. neu geschrieben werden? Nein, sie muss es natürlich nicht. Aber sie ist um eine interessante Fußnote reicher geworden. Das Schreiben des menschenscheuen Monarchen ist ein weiteres Indiz dafür, dass der Mann weder an Paranoia noch an Geistesschwäche litt. Ergebnisse der modernen Forschung lassen auf eine Sozialphobie schließen, die mit Schuld- und Schamgefühlen des Königs wegen seiner homosexuellen Neigungen zusammenhängen könnte.
Die Persönlichkeitsstörung Ludwigs erschwerte allerdings die Staatsgeschäfte in nennenswertem Ausmaß. Er arbeitete vorwiegend nachts und schlief am Tag. Mit seinen Ministern verkehrte er in aller Regel schriftlich. Und wenn dringend eine Unterschrift benötigt wurde, mussten ihn Politiker unter Umständen in einsamen Berghütten aufsuchen. Die Bauwut des Königs war der Schlüssel für das bayerische Kabinett, den Mann loszuwerden. Die Regierungsmitglieder mussten im Streit um einen Kreditwunsch des Königs damit rechnen, ihre Posten zu verlieren. Einer Entlassung wollten sie unter allen Umständen zuvorkommen. Das absonderliche Verhalten des tragisch-berühmten Wittelsbachers spielte dabei nur in ihre Karten. Wer um eigene Pfründe fürchtet, hält sich nicht unbedingt an Recht und Gesetz.