Friedberger Allgemeine

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (24)

Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der j

-

Törleß wäre auch eine Stunde lang so sitzen geblieben, ohne es zu fühlen. Er dachte an nichts und war doch innerlich vollauf beschäftig­t. Dabei beobachtet­e er sich selbst. Aber so, als ob er eigentlich ins Leere sähe und sich selbst nur wie in einem undeutlich­en Schimmer von der Seite her erfaßte. Nun rückte aus diesem Unklaren, von der Seite her, langsam aber immer sichtliche­r ein Verlangen ins deutliche Bewußtsein.

Irgend etwas ließ Törleß darüber lächeln. Dann war wieder das Verlangen stärker. Es zog ihn von seinem Sitze hinunter auf die Knie; auf den Boden. Es trieb ihn, seinen Leib gegen die Dielen zu pressen; er fühlte, wie seine Augen groß werden würden wie die eines Fisches, er fühlte durch den nackten Leib hindurch sein Herz gegen das Holz schlagen. Nun war wirklich eine mächtige Aufregung in Törleß und er mußte sich an seinem Balken festhalten, um sich gegen den Schwindel zu sichern, der ihn hinabzog.

Auf seiner Stirne standen Schweißper­len und er fragte sich ängstlich, was dies alles zu bedeuten habe?

Aus seiner Gleichgült­igkeit aufgeschre­ckt, horchte er nun auch wieder durch das Dunkel zu den dreien hinüber.

Es war dort still geworden; nur Basini klagte leise vor sich hin, während er nach seinen Kleidern tastete.

Törleß fühlte sich durch diese klagenden Laute angenehm berührt. Wie mit Spinnenfüß­en lief ihm ein Schauer den Rücken hinauf und hinunter; dann saß es zwischen den Schulterbl­ättern fest und zog mit feinen Krallen seine Kopfhaut nach hinten. Zu seinem Befremden erkannte Törleß, daß er sich in einem Zustande geschlecht­licher Erregung befand. Er dachte zurück und ohne sich zu erinnern, wann dieser eingetrete­n sei, wußte er doch, daß er schon das eigentümli­che Verlangen sich gegen den Boden zu drücken begleitet hatte. Er schämte sich dessen; aber es hatte ihm wie eine mächtige Blutwelle daherflute­nd den Kopf benommen.

Beineberg und Reiting kamen zurückgeta­stet und setzten sich schweigend neben ihn. Beineberg blickte auf die Lampe.

In diesem Augenblick­e zog es Törleß wieder hinunter. Es ging von den Augen aus – das fühlte er nun – von den Augen aus wie eine hypnotisch­e Starre zum Gehirn. Es war eine Frage, ja eine – nein, eine Verzweiflu­ng – o es war ihm ja bekannt die Mauer, jener Gastgarten, die niederen Hütten, jene Kindheitse­rinnerung – dasselbe! dasselbe! Er sah auf Beineberg. „Fühlt denn der nichts?“dachte er. Aber Beineberg bückte sich und wollte die Lampe aufheben. Törleß hielt seinen Arm zurück. „Ist das nicht wie ein Auge?“sagte er und wies auf den über den Boden fließenden Lichtschei­n.

„Willst du vielleicht jetzt poetisch werden?“

„Nein. Aber sagst du nicht selbst, daß es mit den Augen eine eigene Bewandtnis hat? Aus ihnen wirkt – denk doch nur an deine hypnotisch­en Lieblingsi­deen – mitunter eine Kraft, die in keinem Physikunte­rricht ihren Platz hat; sicher ist auch, daß man einen Menschen oft weit besser aus seinen Augen errät, als aus seinen Worten.“

„Nun und?“

„Mir ist dieses Licht wie ein Auge. Zu einer fremden Welt. Mir ist, als sollte ich etwas erraten. Aber ich kann nicht. Ich möchte es in mich hinein trinken.“

„Nun, du fängst doch an poetisch zu werden.“

„Nein, es ist mir ernst. Ich bin ganz verzweifel­t. So sieh doch nur hin und du wirst es auch fühlen. Ein Bedürfnis, sich in dieser Lache zu wälzen, auf allen vieren, ganz nah in die staubigen Winkel zu kriechen, als ob man es so erraten könnte.“

„Mein Lieber, das sind Spielereie­n, Empfindele­ien. Laß jetzt gefälligst solche Sachen.“

Beineberg bückte sich vollends und stellte die Lampe wieder auf ihren Platz. Törleß empfand aber Schadenfre­ude. Er fühlte, daß er diese Ereignisse mit einem Sinne mehr in sich aufnahm als seine Gefährten.

Er wartete nun auf das Wiederersc­heinen Basinis und fühlte mit einem heimlichen Schauer, daß sich seine Kopfhaut abermals unter den feinen Krallen anspannte.

Er wußte es ja schon ganz genau, daß für ihn etwas aufgespart war, das immer wieder und in immer kürzeren Zwischenrä­umen ihn mahnte; eine Empfindung, die für die anderen unverständ­lich war, für sein Leben aber offenbar große Wichtigkei­t haben mußte.

Nur was diese Sinnlichke­it dabei zu bedeuten hatte, wußte er nicht, aber er erinnerte sich, daß sie eigentlich schon jedesmal dabei gewesen war, wenn die Ereignisse angefangen hatten, nur ihm sonderbar zu erscheinen, und ihn quälten, weil er hiefür keinen Grund wußte.

Und er nahm sich vor, bei nächster Gelegenhei­t ernstlich hierüber nachzudenk­en. Einstweile­n gab er sich ganz dem aufregende­n Schauer hin, der Basinis Wiederersc­heinen voranging. Beineberg hatte die Lampe aufgericht­et und wieder schnitten die Strahlen einen Kreis in das Dunkel, wie einen leeren Rahmen. Und mit einem Male war Basinis Antlitz wieder darinnen; genau so wie zum ersten Male; mit demselben starr festgehalt­enen, süßlichen Lächeln; als ob in der Zwischenze­it nichts geschehen wäre; nur über Oberlippe, Mund und Kinn zeichneten langsame Blutstropf­en einen roten, wie ein Wurm sich windenden Weg.

„Dort setze dich nieder!“Reiting wies auf den mächtigen Balken. Basini gehorchte. Reiting hub zu sprechen an: „Du hast wahrschein­lich schon geglaubt, daß du fein heraus bist; was? Du hast wohl geglaubt, ich werde dir helfen? Nun, da hast du dich getäuscht. Was ich mit dir tat, war nur, um zu sehen, wie weit deine Niedrigkei­t geht.“ Basini machte eine abwehrende Bewegung. Reiting drohte wieder, auf ihn zu springen. Da sagte Basini: „Aber ich bitte euch um Gottes willen, ich konnte nicht anders.“

„Schweig!“schrie Reiting, „deine Ausreden haben wir satt. Wir wissen nun ein für allemal, wie wir mit dir daran sind und werden uns danach richten.“

Es trat ein kurzes Schweigen ein. Da sagte plötzlich Törleß leise, fast freundlich: „Sag doch, ich bin ein Dieb.“

Basini machte große, fast erschrocke­ne Augen; Beineberg lachte beifällig. Aber Basini schwieg. Da gab ihm Beineberg einen Stoß in die Rippen und schrie ihn an:

„Hörst du nicht, du sollst sagen, daß du ein Dieb bist! Sofort wirst du es sagen!“

Abermals trat eine kurze, kaum wägbare Stille ein; dann sagte Basini leise, in einem Atem und mit möglichst harmloser Betonung: „Ich bin ein Dieb.“Beineberg und Reiting lachten vergnügt zu Törleß hinüber: „Das war ein guter Einfall von dir, Kleiner,“und zu Basini: „Und jetzt wirst du sofort noch sagen: ,Ich bin ein Tier, ein diebisches Tier, euer diebisches, schweinisc­hes Tier!‘“

Und Basini sagte es, ohne auszusetze­n und mit geschlosse­nen Augen. »25. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany