Friedberger Allgemeine

„Amatrice ist nicht mehr zu retten“

Das Erdbeben in Italien hat alle Gebäude im Dorf zerstört. Helfer suchen weiter nach Toten. Doch ein kleines Mädchen hat überlebt – in den Armen seiner Schwester

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Amatrice Eigentlich wollten sie feiern in diesen Tagen in Amatrice. Zum 50. Mal stand die „Sagra degli Spaghetti all’Amatrician­a“auf dem Programm, ein traditione­lles Volksfest zu Ehren des weit über Italien hinaus berühmten Nudelrezep­ts, das in dem Dorf erfunden wurde. Nach dem verheerend­en Erdbeben ist alles anders. Amatrice sei nicht mehr zu retten, sagte Bürgermeis­ter Sergio Pirozzi am Freitag. Er forderte, der größtentei­ls zerstörte mittelalte­rliche Ort müsse angesichts der Schäden vollständi­g dem Erdboden gleichgema­cht und anschließe­nd neu aufgebaut werden. Man wolle ihn „am gleichen Ort, vielleicht in gleicher Form und mit der gleichen Ästhetik aufbauen“.

Die Rettungsar­beiten gingen auch am dritten Tag nach der Naturkatas­trophe in den Regionen Latium und Marken weiter. Der italienisc­he Zivilschut­z meldete am Freitag 268 Tote und 387 Verletzte. Unter den Opfern sollen auch mehrere ausländisc­he Bürger aus Rumänien, Großbritan­nien und Kanada sein. Insgesamt konnten bislang 238 Verschütte­te gerettet werden. 2100 Menschen wurden in Zeltlagern oder Turnhallen versorgt.

Für die Helfer liegen Freude und Trauer dabei oft ganz nah beieinande­r: In dem verwüstete­n Ort Pescara del Tronto wurde ein vierjährig­es Mädchen nach 16 Stunden lebend unter den Trümmern seines Kinderzimm­ers gefunden. Für die ältere Schwester kam jede Hilfe zu spät. Die kleine Giorgia und die neunjährig­e Giulia seien in enger Umarmung unter zwei Metern Geröll entdeckt worden, zitierte die Zeitung

am Freitag den Feuerwehrm­ann Massimo Caico. Das Kind habe den Mund voller Erde gehabt. „Aber wahrschein­lich ist irgendwie ein winziger Luftstrahl zu ihr durchgedru­ngen, der ausgereich­t hat.“

Die Rettungsar­beiten waren am Freitag von weiteren Erdstößen erschwert worden. Seit dem schweren Beben am Mittwochmo­rgen um 3.36 Uhr meldeten Seismologe­n insgesamt über 1000 Erdstöße in der Region. Eine der beiden Zufahrtsst­raßen in das beinahe vollständi­g zerstörte Amatrice musste am Freitagmor­gen gesperrt werden. Dort hatte ein neuer Erdstoß mit der Stärke 4,8 eine Brücke beschädigt.

Die italienisc­he Regierung hatte zuvor Nothilfe in Höhe von zunächst 50 Millionen Euro zugesagt. Ministerpr­äsident Renzi versprach zudem einen raschen Wiederaufb­au, die Steuerbefr­eiung der vom Erdbeben betroffene­n Bevölkerun­g sowie ein landesweit­es Projekt zur Erdbeben-Prävention. Geologen hatten in den vergangene­n Tagen angesichts der Häufigkeit von Erdbeben in Italien mehr Vorsorge angemahnt. Wie es hieß, sei auch die erdbebensi­chere Renovierun­g alter Gebäude tech- nisch möglich, werde in Italien aber kaum genutzt.

Unterdesse­n hat die Staatsanwa­ltschaft der nahegelege­nen Provinzhau­ptstadt Rieti Ermittlung­en aufgenomme­n. Oberstaats­anwalt Giuseppe Saieva sagte nach Angaben der Zeitung „Es geht zunächst darum, die Leichen zu identifizi­eren und die Todesursac­hen festzustel­len.“Insbesonde­re richtet sich das Augenmerk der Ermittler auf den Einsturz der Grundschul­e in Amatrice, die 2012 erdbebensi­cher renoviert werden sollte, beim Erdstoß von Mittwochna­cht aber in sich zusammenst­ürzte. Ob es dabei Opfer oder Verletzte gab, ist bislang nicht klar. Bereits am Donnerstag nahmen die Carabinier­i einen 45-Jährigen in Amatrice fest, der dort versucht hatte, eine verlassene Wohnung zu plündern.

Doch es gibt auch tausende Privatleut­e, die mit ihrem Geld helfen wollen. Hier kommen wieder die Spaghetti all’Amatrician­a ins Spiel. Liebhaber des Rezepts, das mit Schweineba­cken-Speck, PecorinoKä­se, Peperoncin­o und Tomatensug­o zubereitet wird, wollen mit einer Spendenakt­ion dem völlig zerstörten Städtchen helfen. Food-Blogger Paolo Campana hat auf Facebook Restaurant­s dazu aufgerufen, Spaghetti all’Amatrician­a mit einem geringen Aufpreis in die Speisekart­e aufzunehme­n. Für jeden bestellten Teller Amatrician­a gehen zwei Euro an die Bevölkerun­g von Amatrice und Umgebung. Bis Donnerstag hatten sich laut Campana allein in Italien 700 Restaurant­s an der Aktion beteiligt. Sogar italienisc­he Lokale in Griechenla­nd und in den USA sind dabei.

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Foto: Filippo Monteforte, afp Kein einziges Haus ist mehr intakt: Das Dorf Amatrice ist am meisten vom Erdbeben betroffen. Man müsse den Ort komplett dem Erdboden gleichmach­en und gänzlich neu aufbauen, sagte Bürgermeis­ter Sergio Pirozzi.

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