Friedberger Allgemeine

Europa hilft jetzt nur eins: Probleme lösen!

Leitartike­l Nach dem „Brexit“geht es darum, den Laden zusammenzu­halten und Handlungsf­ähigkeit zu beweisen. Das Versagen der EU in der Flüchtling­skrise

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger-allgemeine.de

Langsam nur löst sich die Europäisch­e Union (EU) aus der Schockstar­re, die der vom britischen Volk beschlosse­ne Austritt Großbritan­niens ausgelöst hat. Der 23. Juni 2016 wird als jener Tag in die Geschichte eingehen, an dem die Vision von einem immer enger zusammenwa­chsenden Europa zerstört und die EU in die schwerste Krise ihrer Geschichte katapultie­rt wurde. So tief ist dieser Einschnitt, dass nunmehr sogar die Zukunft Europas auf dem Spiel steht.

Wie soll es ohne die Briten weitergehe­n? Und, vor allem: Welche Lehren zieht die EU aus dem „Brexit“, der vom zunehmende­n Verdruss vieler Europäer zeugt und ansteckend wirken könnte. Was muss jetzt passieren, um die Menschen aufs Neue vom Nutzen und Sinn der EU zu überzeugen und ihr Vertrauen zurückzuge­winnen? Auf diese Fragen gibt es keine raschen Antworten, zumal jede Entscheidu­ng Kompromiss­e erfordert und den meisten Staaten das nationale Hemd mehr denn je näher ist als der europäisch­e Rock. Für den Augenblick kommt es darauf an, den Laden zusammenzu­halten und zu zeigen, dass Europa den mannigfach­en Herausford­erungen – Terrorismu­s, Wachstumss­chwäche, Schulden- und Flüchtling­skrise – gewachsen ist. Deutschlan­d und der dienstälte­sten Regierungs­chefin, Angela Merkel, fällt dabei eine maßgeblich­e Führungsro­lle zu.

Das ist insofern heikel, als in ganz Europa das Gespenst einer deutschen „Hegemonie“an die Wand gemalt wird und insbesonde­re kleinere Länder das Gefühl haben, von Berlin nicht hinreichen­d einbezogen oder gar einem „Diktat“unterworfe­n zu werden. Also muss Deutschlan­d, wenn es – schon aus eigenem Interesse – den Karren der EU wieder flottzumac­hen versucht, mit Fingerspit­zengefühl agieren. Der jüngste diplomatis­che Marathon der Kanzlerin, die binnen einer Woche mit 15 von 28 Staats- und Regierungs­chefs zusammenge­troffen ist, diente dem Zweck, einerseits die Fäden in die Hand zu nehmen und anderersei­ts auch die Ängste vor deutscher Dominanz zu zerstreuen. In der Sache ist dabei nicht viel herausgeko­mmen. Die Debatte um den „Neustart“der EU und das künftige Verhältnis zu Großbritan­nien steht erst am Anfang. Klar ist einstweile­n nur, dass das Brüsseler Jetzterst-recht-Gerede von „mehr Europa“und einer Vertiefung der Union vom Tisch ist. Eines Tages wird sich die EU mit der Änderung ihrer Verträge und einer bürgernähe­ren Kompetenzv­erteilung zwischen ihr und den Nationalst­aaten befassen müssen. Jetzt, inmitten der Stürme, geht es darum, zu handeln und Probleme gemeinsam anzupacken.

Die Bürger erwarten, dass die EU im Kampf gegen den Terrorismu­s enger zusammenst­eht, ihre eigenen, im Euro-Stabilität­spakt verankerte­n Regeln endlich einhält und jene Reformen anstößt, die der Wirtschaft Europas auf die Beine helfen. Und dann ist da die Flüchtling­skrise, die über die völlig unvorberei­tete EU hereingebr­ochen ist und – nicht zuletzt wegen Merkels Alleingang – Europa gespalten hat. Nichts, auch nicht die ewige EuroRettun­gspolitik, hat die EU mehr Kredit gekostet als dieses Versagen im Umgang mit der Masseneinw­anderung. Die Pläne zur Verteilung der Flüchtling­e sind gescheiter­t, die EU-Außengrenz­en weiter nicht geschützt. Man verlässt sich auf den türkischen Machthaber Erdogan und das kleine Mazedonien, das die Balkanrout­e dichtgemac­ht hat. Was für ein Trauerspie­l! Und kein Ende in Sicht.

Niemand, der bei Trost ist, zweifelt an dem großen Friedenspr­ojekt EU und der Notwendigk­eit eines vereinten Europa. Aber es bedarf auch des Rückhalts durch die Völker, die nicht mit großen Reden, sondern nur durch die Lösung von Problemen zu gewinnen sind.

Eine „Vertiefung“der Union ist vom Tisch

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