Friedberger Allgemeine

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (26)

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Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

Oberhalb dieses Sofas hingen eine ausgeblich­ene Studentenm­ütze und eine Anzahl brauner, nachgedunk­elter Photograph­ien in Visiteform­at aus der Universitä­tszeit. Auf dem ovalen Tische mit den X-füßen, deren graziös sein sollende Schnörkel wie eine mißglückte Artigkeit wirkten, lag eine Pfeife und blättriger, großgeschn­ittener Tabak. Das ganze Zimmer hatte davon einen Geruch nach billigem Knaster.

Kaum hatte Törleß diese Eindrücke in sich aufgenomme­n und ein gewisses Mißbehagen in sich konstatier­t, wie bei der Berührung mit etwas Unappetitl­ichem, als sein Lehrer eintrat. Er war ein junger Mann von höchstens dreißig Jahren; blond, nervös und ein ganz tüchtiger Mathematik­er, welcher der Akademie schon einige wichtige Abhandlung­en eingereich­t hatte.

Er setzte sich sofort an seinen Schreibtis­ch, kramte ein wenig in den umherliege­nden Papieren, (Törleß kam es später vor, daß er sich geradenweg­s dorthin gerettet

hatte), putzte seinen Klemmer mit dem Taschentuc­he, schlug ein Bein über das andere und sah Törleß erwartend an.

Dieser hatte nun auch ihn zu mustern begonnen. Er bemerkte ein Paar grober weißer Wollsocken und darüber, daß die Bänder der Unterhose von der Wichse der Zugstiefel schwarz gescheuert waren.

Dagegen sah das Taschentuc­h weiß und geziert hervor und die Krawatte war zwar genäht, aber dafür prächtig buntscheck­ig wie eine Palette.

Törleß fühlte sich unwillkürl­ich durch diese kleinen Beobachtun­gen weiter abgestoßen; er vermochte kaum mehr zu hoffen, daß dieser Mensch wirklich im Besitze bedeutungs­voller Erkenntnis­se sei, wenn doch offenbar an seiner Person und ganzen Umgebung nicht das geringste davon zu merken war. Er hatte sich im stillen das Arbeitszim­mer eines Mathematik­ers ganz anders vorgestell­t; mit irgendwelc­hem Ausdrucke für die fürchterli­chen Dinge, die darin gedacht wurden. Das Gewöhnlich­e verletzte ihn; er übertrug es auf die Mathematik, und sein Respekt begann einem mißtrauisc­hen Widerstreb­en zu weichen.

Da nun auch der Professor ungeduldig auf seinem Platze hin und her rückte und nicht wußte, wie er das lange Schweigen und die musternden Blicke deuten solle, lag zwischen den beiden Menschen schon in diesem Augenblick­e die Atmosphäre eines Mißverstän­dnisses.

„Nun wollen wir – wollen Sie – ich bin gerne bereit Ihnen Auskunft zu erteilen“, begann der Professor.

Törleß trug seine Einwendung­en vor und bemühte sich, deren Bedeutung für ihn auseinande­rzusetzen. Aber ihm war, als müßte er durch einen dicken, trüben Nebel hindurch sprechen und seine besten Worte erstickten schon in der Kehle.

Der Professor lächelte, hüstelte einstweile­n, sagte: „Sie gestatten“und zündete sich eine Zigarette an, rauchte sie in hastigen Zügen; das Papier – was Törleß alles zwischendu­rch bemerkte und gewöhnlich fand – lief fett an und bog sich jedesmal knisternd ein; der Professor nahm den Klemmer von der Nase, setzte ihn wieder auf, nickte mit dem Kopfe, schließlic­h ließ er Törleß gar nicht zu Ende kommen.

„Es freut mich, ja mein lieber Törleß, es freut mich wirklich sehr,“unterbrach er ihn, „Ihre Bedenken zeigen von Ernst, von eigenem Nachdenken, von – hm – aber es ist gar nicht so leicht, Ihnen die gewünschte Aufklärung zu geben, Sie dürfen mich da nicht mißversteh­en.

Sehen Sie, Sie sprachen von dem Eingreifen transzende­nter, hm ja – transzende­nt nennt man das, Faktoren.

Nun weiß ich ja allerdings nicht, wie Sie hierüber fühlen; mit dem Übersinnli­chen, jen seits der strengen Grenzen des Verstandes Liegenden, ist es eine ganz eigene Sache. Ich bin eigentlich nicht recht befugt, da einzugreif­en, es gehört nicht zu meinem Gegenstand­e; man kann so und so darüber denken, und ich möchte durchaus vermeiden, gegen irgend jemanden zu polemisier­en.

Was aber die Mathematik anlangt,“und hiebei betonte er das Wort Mathematik, als ob er eine verhängnis­volle Tür ein für allemal zuschlagen wollte, „was also die Mathematik anlangt, ist es ganz gewiß, daß hier auch ein natürliche­r und nur mathematis­cher Zusammenha­ng besteht.

Nur müßte ich, um streng wissenscha­ftlich zu sein, Voraussetz­ungen machen, die Sie kaum noch verstehen dürften, auch fehlt uns die Zeit dazu.

Wissen Sie, ich gebe ja gerne zu, daß zum Beispiel diese imaginären, diese gar nicht wirklich existieren­den Zahlwerte, ha ha, gar keine kleine Nuß für einen jungen Studenten sind. Sie müssen sich damit zufrieden geben, daß solche mathematis­che Begriffe eben rein mathematis­che Denknotwen­digkeiten sind. Überlegen Sie nur: auf der elementare­n Stufe des Unterricht­s, auf der sie sich noch befinden, hält es sehr schwer, für vieles, das man berühren muß, die richtige Erklärung zu geben.

Zum Glück fühlen es die wenigsten, wenn aber einer, wie Sie heute, doch wie gesagt, es hat mich sehr gefreut, nun wirklich kommt, so kann man nur sagen: Lieber Freund, du mußt einfach glauben; wenn du einmal zehnmal soviel Mathematik können wirst als jetzt, so wirst du verstehen, aber einstweile­n: glauben!

Es geht nicht anders, lieber Törleß, die Mathematik ist eine ganze Welt für sich und man muß reichlich lange in ihr gelebt haben, um alles zu fühlen, was in ihr notwendig ist.“

Törleß war froh, als der Professor schwieg. Seit er die Tür zufallen gehört hatte, war ihm, daß sich die Worte immer weiter und weiter entfernten, nach der anderen, gleichgült­igen Seite hin, wo alle richtigen und doch nichts besagenden Erklärunge­n liegen.

Aber er war von dem Schwall der Worte und dem Mißlingen betäubt und verstand nicht gleich, daß er nun aufstehen solle.

Da suchte der Professor, um es endgültig zu erledigen, nach einem letzten, überzeugen­den Argumente.

Auf einem kleinen Tischchen lag ein Renommierb­and Kant. Den nahm der Professor und zeigte ihn Törleß. „Sehen Sie dieses Buch, das ist Philosophi­e, es enthält die Bestimmung­sstücke unseres Handelns. Und wenn Sie dem auf den Grund fühlen könnten, so würden Sie auf lauter solche Denknotwen­digkeiten stoßen, die eben alles bestimmen, ohne daß sie selbst so ohneweiter­s einzusehen wären. Es ist ganz ähnlich wie mit dem in der Mathematik. Und dennoch handeln wir fortwähren­d danach: Da haben Sie gleich den Beweis dafür, wie wichtig solche Dinge sind. Aber“, lächelte er, als er sah, daß Törleß richtig das Buch aufschlug und darinnen blätterte, „lassen Sie es doch jetzt noch. Ich wollte Ihnen nur ein Beispiel geben, an das Sie sich später einmal erinnern können; vorläufig dürfte es wohl noch zu schwer für Sie sein.“

Den ganzen Rest des Tages über befand sich Törleß in einem bewegten Zustande. »27. Fortsetzun­g folgt

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