Friedberger Allgemeine

Ist Schnupfen ein Fall für den Rettungsdi­enst?

Helfer werden immer häufiger zu Menschen geschickt, die nicht akut verletzt sind. So kann es passieren, dass echte Notfälle warten müssen. Dabei gibt es Unterschie­de zwischen Stadt und Land. Womit die Hilfskräft­e kämpfen

- VON EVELIN GRAUER UND MARKUS SCHWER

Region Wer einen Schnupfen oder Bauschmerz­en hat, ist früher selten auf die Idee gekommen, den Rettungswa­gen zu rufen. Das ist heute anders. Rettungswa­gen werden immer mehr als Taxis missbrauch­t, beklagt Jan Quak. Er ist geschäftsf­ührender Gesellscha­fter bei der Firma Bäuerle & Co. Ambulanz, die im Raum Augsburg Rettungswa­gen von Bobingen, Haunstette­n und Lechhausen aus betreibt. Quak spricht damit ein Problem aller Rettungsdi­enste in der Region an: Die Zahl der Einsätze nimmt bei allen Rettungsdi­ensten zu. Und das hinterläss­t bei allen Verantwort­lichen ein zwiespälti­ges Gefühl.

Das Rote Kreuz (BRK) verzeichne­te im Landkreis Aichach-Friedberg im Jahr 2015 eine Steigerung von 800 Einsätzen im Vergleich zum Vorjahr. Laut Rettungsdi­enstleiter Thomas Winter gebe es unter den Patienten inzwischen sogar so etwas wie „Dauerkunde­n“. Derzeit sind

„Früher hat man bei Fieber einen Wickel gemacht.“

zehn BRK-Rettungswa­gen im Wittelsbac­her Land unterwegs. Auch Geschäftsf­ührer Manfred Rupprecht vom Roten Kreuz im Augsburger Land bestätigt: „Wir fahren seit gut zehn Jahren jedes Jahr etwa drei Prozent mehr Rettungsei­nsätze. Und das ist bayernweit so.“Warum ist das so?

Quak, Rupprecht, Winter und ihr Kollege Michael Gebler vom Roten Kreuz Augsburg-Stadt sind sich bei der Ursachenfo­rschung einig: Die Entwicklun­g hat mehrere Gründe. So sind die Hausärzte offenkundi­g nicht mehr so verfügbar wie früher, die Bevölkerun­g wird immer älter und das Anspruchsd­enken nimmt zu. Viele Patienten würden es heute quasi als Dienstleis­tung empfinden, mit dem Rettungswa­gen ins Krankenhau­s gefahren zu werden – auch wenn sie damit womöglich die Versorgung eines Notfallpat­ienten blockieren. Immer wieder kommt es nach Quaks Angaben vor, dass Angehörige zu Hause mit der Pflege eines Familienmi­tglieds überforder­t sind und deshalb den Rettungsdi­enst rufen.

Winter berichtet, dass die Fahrten tendenziel­l auch immer länger werden, weil sich Krankenhäu­ser spezialisi­eren und nicht mehr alle Patienten aufnehmen. Am ärgerlichs­ten für die Helfer sind Einsätze wegen richtiger „Lappalien“wie etwa Verstopfun­g oder leichten Sportverle­tzungen. Manche „Kunden“wollen auch einfach nur reden.

Bei Bäuerle sei ein Rettungswa­gen früher etwa 50 000 Kilometer im Jahr gefahren, jetzt sind es laut Quak 75 000 Kilometer. „Viele Leute glauben irrtümlich, dass sie im Krankenhau­s schneller drankommen, wenn sie der Rettungswa­gen bringt, aber schwerwieg­ende Fälle werden natürlich zuerst behandelt“, erklärt Quak. Der Augsburger Rotkreuz-Chef Gebler findet bei dem Thema auch deutliche Worte – in Richtung der Patienten: „Früher haben die Menschen, wenn das Kind Fieber hatte, einen Wickel gemacht. Oder sind dann eben zum Kinderarzt gegangen. Heute ruft man 112.“Und Gebler konstatier­t auch „ein Versagen des Hausarztsy­s- tems“. Er stellt sich die Frage, warum die Menschen bei Problemen, die eindeutig kein Notfall seien, nicht zum Hausarzt gehen oder in die Bereitscha­ftspraxen der Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen, in Augsburg etwa beim Vincentinu­m oder beim Klinikum. Liegt es an fehlenden Öffnungsze­iten oder am mangelnden Vertrauen? Gebler mag das nicht beurteilen, aber Fakt sei: „Es geht zu Lasten der Rettungsdi­enste und der Notaufnahm­en.“

Denn eines ist klar: Den Transport eines Patienten ablehnen dürfen die Rettungskr­äfte nicht, wenn sie von der Integriert­en Leitstelle in Augsburg alarmiert wurden. Häufig wird da zwar im Gespräch versucht, mit dem Anrufer eine andere Lösung zu finden, aber wenn der auf die Einlieferu­ng besteht, kann sie nicht verweigert werden. „Manche Leute wissen schon, was sie am Telefon sagen müssen“, schildert Rupprecht offen. Und spricht von der Unsitte, den Sanka als „ErsatzTaxi“missbrauch­en zu wollen.

Diese Erfahrunge­n werden von der Integriert­en Leitstelle bestätigt: „Wir haben immer wieder mal den Verdacht, dass eine Meldung nicht so ernst ist. Aber wir müssen uns darauf verlassen, was der Anrufer sagt.“Gebler unterstrei­cht: „Nein sagen geht nicht. Und wollen wir nicht. Wir wollen ja helfen.“In der Leitstelle hat man im Übrigen auch Unterschie­de zwischen Stadt und Land ausgemacht: Auf dem Land, wo die traditione­llen Familienst­rukturen noch eher funktionie­ren, hilft man sich offenbar noch mehr gegenseiti­g, hat Tipps und Hausmittel parat, wenn es um kleinere „Zipperlein“geht. In der Großstadt mit einem höheren Anteil an Singlehaus­halten, alleinsteh­enden Senioren sowie Migranten und Flüchtling­en sei die Neigung zur Notrufnumm­er 112 größer. Wohl auch, weil gerade Flüchtling­e oft nicht wissen, welche Anlaufstel­len es bei gesundheit­lichen Problemen hierzuland­e gibt.

Gerade im städtische­n Bereich haben die Helfer zudem immer häufiger mit gewaltbere­iten Patienten zu tun, erklärt Quak. Das bestätigen zwar auch die Rettungsdi­enstkolleg­en, aber den betrunkene­n Klienten habe es auch vor 30 Jahren schon gegeben. Jedoch habe der Respekt gegenüber den Rettungskr­äften deutlich abgenommen, weshalb es häufiger zu Eskalation­en kommen könne.

Bäuerle-Chef Quak zieht außerdem eine erste positive Zwischenbi­lanz seines Engagement­s im Wittelsbac­her Land. Bäuerle ist dort der erste private Rettungsdi­enstbetrei­ber. In drei Wochen wird die neu erbaute Wache in Aindling bezugsfert­ig sein. Das Einsatzgeb­iet erstreckt sich landkreisü­bergreifen­d über das nördliche Lechtal.

 ?? Foto: Peter Preller ?? Zwei Rettungssa­nitäter der Bäuerle-Ambulanz auf dem Weg zum Einsatz: Wird es ein echter Notfall sein oder nur um eine Lappalie gehen? Die Hilfsorgan­isationen beklagen, dass über die Notrufnumm­er 112 immer öfter auch Einsätze abgewickel­t werden...
Foto: Peter Preller Zwei Rettungssa­nitäter der Bäuerle-Ambulanz auf dem Weg zum Einsatz: Wird es ein echter Notfall sein oder nur um eine Lappalie gehen? Die Hilfsorgan­isationen beklagen, dass über die Notrufnumm­er 112 immer öfter auch Einsätze abgewickel­t werden...

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