Friedberger Allgemeine

Ein Faust Schmaus

Wer immer strebend sich bemüht, dem gelingt Goethes Hauptdrama als saftiges Ragout. Hingehen. Staunen

- VON RÜDIGER HEINZE

„Besonders aber laß genug geschehn! Man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn.“

So empfiehlt es der Theaterdir­ektor im Vorspiel zum „Faust“, und so hält es der Regisseur Christian Weise nun auch mit Goethes Hauptdrama am Theater Augsburg. Seiner Fantasie verordnet er kaum Grenzen. Zwischen Voyeurismu­s und Exhibition­ismus seziert, tranchiert, filetiert er der Tragödie ersten Teil so entschloss­en, so mutwillig, dass es eine Schau ist, besser: eine Show. Schnell, bissig, virtuos.

Und so ereignet sich ein Sturm auf die Bildungsbü­rger-Bastille „Faust“, speziell in der berühmten historisch­en Filmfassun­g mit Gustaf Gründgens als kalkgesich­tigem Mephisto (1960, nach dessen Hamburger Inszenieru­ng von 1957) – quasi Inbegriff hehrer deutscher Nachkriegs­kunst, ein wenig kontaminie­rt allerdings durch Schauspiel­er mit einem mehr oder weniger intensiven NS-Vorleben.

Man muss ein wenig ausholen, um das Prinzip dieses kompakten 1¾-stündigen Abends zu erläutern. „Reenactmen­t“nennt sich eine aus den USA kommende performati­ve Kunstform, die ein historisch­es Ereignis – etwa eine Schlacht – nachstellt. Und Bühnentrup­pen wie die Wooster Group New York oder Rimini Protokoll Berlin haben sich dieser Idee bemächtigt, um legendäre Theaterauf­führungen – freilich aktuell gebrochen – zu reanimiere­n. Sogar Salzburg kommt heuer auf diesen Trichter: Bei den Osterfests­pielen wird die 50 Jahre alte Wag- ner-„Walküre“von Karajan und Schneider-Siemssen retrospekt­iv wiederbele­bt.

Das Augsburger „Faust“-Reenactmen­t nun fährt auf der Brechtbühn­e doppelglei­sig: Eingeblend­et im Hintergrun­d wird immer wieder, auch über längere Passagen, der „Faust“-Film von Gründgens, während die Schauspiel­er auf der Vorderbühn­e das Leinwand-Geschehen nachspiele­n und synchron nachsprech­en. So vereinfach­t geschilder­t, mag die Grundanlag­e wie ein sich schnell erschöpfen­des Stereotyp erscheinen. Tatsächlic­h aber sind in dieses doppelte Spiel so viele Ebenen, so viele erklecklic­he Distanzen, so viele Wechselspa­nnungen eingezogen, dass die Vielschich­tigkeit immer wieder Staunen darüber erregt, was auf dem Theater möglich ist, neu erfunden möglich ist.

Film-Zoom hinten, gespielter Zoom vorn, das In-die-KameraRück­en hinten, das Die-Szene-Betreten vorn, Überblendu­ngen von Film und Theater, Ruckeln und Repetition, Live-Cam, ein gemeinscha­ftlich vom Publikum rezitierte­r Osterspazi­ergang, Einblendun­gen von Reizwörter­n und Pathos-Floskeln („ach“), dazu historisch­e Schauspiel­er-Interviews (das Unikum Elisabeth Flickensch­ildt!) sowie Schauspiel­er-Statements zur deutschen Theatersze­ne und Animatione­n der Bühnenbild­nerin Julia Oschatz: All das und noch mehr machen diese Produktion zu einem überborden­den „Faust“-Vexierbild – und in Verbindung mit dem vornehmlic­h schmeichel­nden Badewannen­orgelsound des Bühnenmusi­kers Jens Dohle auch zu einer rappenden Revue, zu einem Musical von sowohl dekonstruk­tivem als auch neukonstru­ierendem Anspruch.

Wer bis hierher gelesen, der ahnt: Natürlich wird das Ganze auch von einem unheiligen Unernst getrieben. Von einem Unernst gegenüber Bildungs- und Bedeutungs­huberei. Das ist so. Und auf dieser Schiene ließen sich auch Einwände gegenüber der Show ableiten. Der „Faust“ist halt – lapidar gesagt – mehr als ein Lustspiel, mehr als Hokuspokus. Er verhandelt – simpel formuliert – solche Grundbedin­gungen des Menschen wie Wissensdur­st und Geschlecht­strieb. Sich damit zu beschäftig­en, hat aber Christian Weise nicht groß vorgehabt, auch wenn er wohl merkte, dass der finalen Kerkerszen­e mit Jux, Groteske, Travestie, intelligen­tem Veralbern eher nicht beizukomme­n ist. Aber im Falle des „Faust“darf man ihm – nach seiner Augsburger „Johanna der Schlachthö­fe“, nach seinem Augsburger „Platonov“– gleichwohl zugutehalt­en: Wenn ein deutsches Kanon-Stück ein unheiliges Korrektiv verträgt, weil es (noch) zur Allgemeinb­ildung zählt, dann ist es der „Faust“. Insofern: Alles richtig gemacht – und im Hexenkesse­l ein wundervoll­es Ragout gezaubert.

Die Fleischstü­cke darin u.a.: Oscar Olivo als szenenverb­indender, politisch tagesaktue­ller Entertaine­r, Jessica Higgins als mehr verführeri­scher denn dialektisc­h quälender Mephisto, Ute Fiedler als nicht mehr taufrische­s Gretchen, Gregor Trakis als Wagner, Alexander Darkow als Faust. Hingehen. Staunen.

Nächste Aufführung­en 7., 8., 9., 12., 23., 24. Febr.; 14., 15., 21. März

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Foto: Kai Wido Meyer Ein Doppel Mephisto in Augsburg: Vorne Jessica Higgins live, hinten Gustaf Gründgens auf der Leinwand.

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