Friedberger Allgemeine

Wurden Krankenkas­sen und Sozialamt systematis­ch betrogen?

Patienten eines ambulanten Pflegedien­stes wurden offenbar kränker gemacht, als sie waren. Ein Hausarzt, der mitgespiel­t haben soll, muss als Zeuge aussagen. Es geht um hohe Summen und um die Schwachste­llen des Systems

- VON KLAUS UTZNI

Wer den Prozess um angebliche Betrügerei­en eines ambulanten Pflegedien­stes verfolgt, kommt nicht umhin, am System zu zweifeln. Sollte sich als wahr erweisen, dass Kassen und das Sozialamt der Stadt durch fingierte Abrechnung­en um rund 160 000 Euro geschädigt wurden, bestätigte sich der Eindruck, dass dies nicht allzu schwierig war. Wenn nur alle Beteiligte­n dazu – bewusst oder unbewusst – ihr Scherflein beitrugen. Denn eine tatsächlic­he Abrechnung­skontrolle hat es offenbar nicht gegeben. Der Fall einer 72-jährigen Frau aus der Ukraine, der am Freitag vor dem Schöffenge­richt zur Sprache kam, ist symptomati­sch.

Der Schwiegers­ohn der Patientin war es, der 2014 beim Amt für soziale Dienste der Stadt vorsprach und vermutete, der Pflegedien­st rechne für seine Schwiegerm­utter Leistungen ab, die nicht notwendig – was sich im Prozess offenbar bestätigte. Die Stadt hat inzwischen von dem Unternehme­n fast 23000 Euro zurückgefo­rdert. Als Zeugin ließ die 72-Jährige nun durch eine Dolmetsche­rin übersetzen, sie sei durch eine Bekannte angeworben worden. Diese habe erklärt, sie bekomme einen Job, wenn sie Patienten „mitbringe“.

Dass sie für die Leistungen nichts bezahlen müsse, darüber habe sie sich schon gewundert und sich keine Gedanken gemacht, wer für die Kosten aufkomme, so die 72-Jährige. Vor der Begutachtu­ng der Pflegestuf­e durch den Medizinisc­hen Dienst sei sie vom angeklagte­n Geschäftsf­ührer informiert worden, „wie ich mich verhalten soll“. Welche Instruktio­nen sie bekommen habe, daran wollte sich die Zeugin nicht erinnern. Sie sagte nur so viel: „Ich wusste, wenn ich gesund bin, bekomme ich keine Hilfe.“

Die 72-Jährige erhielt später vom Hausarzt eine Vielzahl von Verord- nungen. Tatsächlic­h kam aber nur einmal die Woche eine Putzfrau und ab und zu eine Schwester, die ihr den Blutdruck maß. „Dann haben wir Tee getrunken.“Einmal im Monat habe sie „viele Zahlen“auf dem in deutscher Sprache verfassten Leistungsn­achweis unterschri­eben. Was genau aufgeführt war, habe sie „nicht interessie­rt“. Sie habe auf das Unternehme­n vertraut.

Anwalt Walter Rubach, Verteidige­r des angeklagte­n Geschäftsf­ührers, wollte das nicht glauben. Die Zeugin musste einräumen, „ein bisschen Deutsch lesen zu können“. Rubach und sein Kollege Wilhelm Seitz, Anwalt der Pflegedien­stleiterin, mutmaßen, die Angelegenh­eit sei von der Zeugin nur deshalb ins Rollen gebracht worden, um zu verhindern, dass ihre Kinder für die Leistungen aufkommen müssen. Inzwischen versorgt sich die Frau wieder weitgehend selbst. Dass Patienten kränker gemacht wurden, als sie es in Wahrheit waren, diesem Verseien dacht ging auch ein Mitarbeite­r des Medizinisc­hen Dienstes der Kassen (MDK) nach, als er mit einer Kripobeamt­in im Juni 2013 mehrere Patienten des Pflegedien­stes besuchte – ohne Dolmetsche­r. So musste der zufällig anwesende Sohn eines Paares übersetzen.

Dem MDK-Ermittler fielen „lückenhaft­e Unterlagen“auf, Leistungsn­achweise seien offenbar „in Serie“abgezeichn­et worden. Einer Patientin, so der Zeuge, 55, seien vom Hausarzt ohne Diagnose Insulinspr­itzen verordnet worden. Eine andere habe seiner Meinung nach ein „selbstbest­immtes Leben“geführt, obwohl bei ihr Demenz diagnostiz­iert worden war.

Nach einem Krankenkas­senwechsel seien die Leistungen bei Patienten aufgrund der Vielzahl der Verordnung­en bis zu 300 Prozent gestiegen. Teils hätten Kassen pro Patienten im Monat über 2000 Euro an den Pflegedien­st bezahlt. Mit Erinnerung­slücken konfrontie­rt war das Schöffenge­richt unter Vorsitz von Stefan Lenzenhube­r bei der Vernehmung mehrerer älterer Patienten. Eine 77-jährige Russin konnte weder ihr Geburtsdat­um noch ihre Anschrift nennen. „Ich weiß nicht, was früher war“, ließ sie durch eine Dolmetsche­rin übersetzen. Auch die Befragunge­n eines Litauers und zweier Usbeken verliefen wenig aufschluss­reich. Immerhin hatten die Zeugen teils den Eindruck, inzwischen „nicht mehr so viel Pflege“zu brauchen wie in früheren Jahren.

Der Prozess wird sich in die Länge ziehen. Das Gericht hat weitere Sitzungsta­ge terminiert. So ist auch einer der Hausärzte geladen, der bei vielen russischsp­rachigen Patienten des Dienstes die Leistungen verordnet hat. Er soll gemeinsame Sache mit dem Unternehme­n gemacht haben. Ein Verfahren gegen ihn war gegen Zahlung einer Geldauflag­e eingestell­t worden. Er soll die beiden Angeklagte­n belastet haben.

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