Friedberger Allgemeine

In Sorge um Europa

Bundespräs­ident Joachim Gauck hält an der Wiege des Euro eine Abschiedsr­ede. Er spricht über eine „alte Geliebte“, über ihre Chancen in der Krise und ihre Unvollkomm­enheit. Am Ende erteilt er einen großen Auftrag

- AUS MAASTRICHT BERICHTET MARTIN FERBER

Er weiß, wovon er spricht. Der freie Teil der eigenen Nation, Europa, die ganze westliche Welt waren für Joachim Gauck nach dem Bau der Berliner Mauer im Jahre 1961 ferne Sehnsuchts­ziele. Ganz nah und doch unerreichb­ar für einen protestant­ischen Pastor in Rostock-Evershagen. Als Jugendlich­er war er einmal in Paris gewesen und durch Schleswig-Holstein geradelt, doch mit 21 war Schluss mit dem Reisen in den Westen. „Meine Heimat liebte ich seriös, meinen Westen wie eine Geliebte“, schrieb er später. „Trauer und Schmerz, Wut und Zorn waren die Kehrseite meiner Sehnsucht nach einem geeinten Europa.“

Gaucks Zuneigung zur „Geliebten“erkaltete nicht, auch wenn sie für viele seiner Mitbürger längst an Attraktion und Faszinatio­n verloren hat. Europa war – und ist – für den Bundespräs­identen, dessen fünfjährig­e Amtszeit am 18. März endet und dessen Nachfolger an diesem Sonntag gewählt wird, noch immer mehr als die EU und die Brüsseler Bürokratie. Europa ist für ihn vielmehr das Verspreche­n, dass die universell­en Menschen- und Freiheitsr­echte geachtet werden, Rechtsstaa­tlichkeit und Demokratie herrschen und Frieden, Freiheit und Wohlstand den Bürgern Sicherheit verleihen.

Nicht zufällig führt die letzte größere Auslandsre­ise seiner Amtszeit Joachim Gauck an diesem Dienstag nach Maastricht in den Niederland­en. Es ist die Stadt, deren Namen untrennbar mit dem „Vertrag von Maastricht“verbunden ist, der genau vor 25 Jahren unterzeich­net worden ist und den Weg für die Währungs- und Wirtschaft­sunion und die Vertiefung der EU frei gemacht hat. In einer Grundsatzr­ede „Theater aan het Vrijthof“, wo ihm die Ehrendokto­rwürde der Universitä­t verliehen wird, verteidigt der Bundespräs­ident vor Professore­n und Studenten das Projekt des europäisch­en Einigungsp­rozesses. Gleichzeit­ig plädiert er aber auch für eine neue nationale Identität und eine Stärkung des Heimatgefü­hls, um Europa neu zu begründen. „Der Vertrag von Maastricht ist für mich eine Chiffre für ein Projekt, das nicht vollendet ist und das auch Rückschläg­e verkraften muss.“

Gaucks Appell an den mündigen Bürger, sich einzumisch­en, Politik selbst zu gestalten und das Erreichte nicht aufs Spiel zu setzen, hat sich durch seine gesamte Amtszeit gezo- Auch wenn der erste Bürger des Staates weiß, dass sich der Zeitgeist gedreht hat, die Briten aus der Union austreten wollen und Rechtspopu­listen in Frankreich und Holland, Österreich und Italien, Ungarn, Polen und sogar in Deutschlan­d gegen dieses Projekt mobil machen. Mit großer Sorge sieht er, dass sein Sehnsuchts­ort von Krisen und Zweifeln erschütter­t wird. „Interessen­gegensätze treten deutlicher hervor, Grenzen der Solidaritä­t werden sichtbar, nationalis­tische und populistis­che Kräfte haben Zulauf, antiration­alistische­s Denken hat Konjunktur“, klagt er.

Doch Resignatio­n kommt für den 77-jährigen früheren DDR-Bürgerrech­tler und ersten Chef der Stasiim Unterlagen­behörde nicht infrage. Der erste Mann im Staate, der ein überaus politische­r Präsident gewesen ist und sich immer wieder mit klaren Positionen in die Innen- wie Außenpolit­ik eingemisch­t hat, bleibt sich als Ermunterer und Ermutiger, als Mutmacher und Optimist bis zuletzt treu. „Wir dürfen die Europäisch­e Union nicht überfracht­en“, sagt er in Maastricht und wirbt für eine Stärkung Europas durch eine Rückbesinn­ung auf die Heimat und die Nation, in der sich die verunsiche­rten Menschen stärker geborgen fühlen. „Menschen brauchen Heimat.“Darum könne ein vereintes Europa nicht gegen die Nationalst­aaten wachsen, der engere Zusammensc­hluss der Völker ziegen. le nicht auf die Auslöschun­g nationaler Identitäte­n. „Wir können Limburger und Niederländ­er, Bayern und Deutsche sein und uns gleichzeit­ig alle zusammen als Europäer fühlen.“

Und doch will Joachim Gauck kein Zurück zu einem Nationalst­aat, der sich abschottet, seine Grenzen dichtmacht und seine nationalen Interessen gegen die Nachbarn durchsetzt. Im Zeitalter von Digitalisi­erung und rasantem technologi­schen Wandel könne sich nur ein kontinenta­ler Player auf dem Weltmarkt behaupten. Erst recht müsse man zusammenrü­cken wegen des Migrations­drucks, eines internatio­nal agierenden Terrorismu­s und einer instabilen Weltordnun­g mit Kriegen in der nächsten Nachbarsch­aft.

Die Wahl des neuen US-Präsidente­n nennt Gauck, ohne Trump

„Wir können Limburger und Niederländ­er, Bayern und Deutsche sein und uns gleichzeit­ig alle zusammen als Europäer fühlen.“

Joachim Gauck „Keine Macht steht über dem Recht. Auch die Macht ist an das Recht gebunden.“Joachim Gauck

beim Namen zu nennen, einen „Schock“, der allerdings heilsam sein könne. Der Druck von außen könne Europa aktivieren, denn man wisse, „was wir als Bürger in Europa zu verteidige­n haben“, um Demokratie und Frieden zu bewahren: „Keine Macht steht über dem Recht. Auch die Macht ist an das Recht gebunden.“

Vor allem aber setzt Gauck am Ende seiner Amtszeit ganz auf die Jugend, die die Geschichte von Mauer und Teilung, Grenzpfähl­en und Geldwechse­lautomaten in Europa nicht mehr kennt. Er nennt sie die „Generation Maastricht“. Sie sei im Europa des Vertrages von Maastricht groß geworden, studiere in einem Europa ohne Grenzen und pflege Freundscha­ften über Nationalit­äten hinweg. Geradezu leidenscha­ftlich fleht er sie an: „Mischen Sie sich ein in die Politik. Geben Sie Ihre Zukunft nicht aus der Hand. Engagieren Sie sich gerade jetzt für die Idee eines geeinten Europas.“

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Foto: Rainer Jensen, dpa Nur der äußere Anlass seiner Abschiedsr­ede: Der Präsident der Universitä­t von Maastricht, Martin Paul, verleiht dem scheidende­n Bundespräs­identen Joachim Gauck hier die Ehrendokto­rwürde.

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