Plädoyer für das Wild im Wald
Berlinale: Neues aus Polen und Österreich
Berlin Als Filmfestival mit politischem Selbstverständnis hat die Berlinale 2017 ein Problem. Durch Brexit und Trump befindet sich die Welt in einer Zeitenwende, aber selbst Filmemacher, die oft eine erstaunliche Weitsicht an den Tag legen, haben diese Entwicklung nicht vorhergesehen. Dass das Festival 2016 mit dem Siegerfilm „Fuocoammare“thematisch derart auf der Höhe der Zeit war, lag daran, dass die Flüchtlingskrise sich über Jahre hinweg angekündigt hatte und Regisseure schon früh in diesen toten Winkel der öffentlichen Wahrnehmung geblickt haben. Aber nun landen auf der Berlinale Werke aus der Prä-Trump-Ära in einem TrumpKontext, weil das Kino mit seinen langen Vorlaufzeiten der Entwicklung zwangsläufig hinterherhinkt.
Das hindert die Betrachter aber nicht daran, die Filme im aktuellen politischen Zusammenhang zu interpretieren. Dies macht Sinn bei einem Film wie Oren Movermans „The Dinner“, scheint aber im Falle von „Pokot“der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland etwas aufgesetzt: In jenen Jägern, die in ihrem Film Wild zahlreich erlegen, bis die Natur sich für das Massaker zu rächen scheint, sieht die Filmemacherin Männer mit narzisstischen Störungsmustern, die bekanntlich auch höchste Regierungsämter bekleiden können. Und da ist sie wieder, die Trump-Karte, auch wenn der Film ein ganz anderes Thema ins Visier nimmt. „Pokot“kann man sich als feministisch durchwehten VeganerThriller vorstellen, weil eine Englischlehrerin gegen andauernden Tiermord in den umliegenden Wäldern vorgeht. Holland mischt Krimi-Elemente, Traumsequenzen, fantastische Naturaufnahmen und ein komödiantisches Figurenarsenal zu einem skurrilen Produkt, das jedoch in seiner Schlussauflösung zu vorhersehbar ist und seine Philosophie etwas krude formuliert.
Vergeblich: Racheakte am früheren Chef
Als Gegenteil narzisstischer AlphaMänner kommt der Wiener Musikkritiker Georg daher, den der österreichische Kabarettist Josef Hader in seinem Regiedebüt „Wilde Maus“tief in die Midlife-Crisis stürzt. Wenn der frisch gekündigte Redakteur mit einer Liliput-Eisenbahn durch den Prater fährt, um die ersten Arbeitslosentage herumzubekommen, findet die nachberufliche Erniedrigung ein hübsches ironisches Bild. „Wilde Maus“präsentiert sich als „Ein Mann sieht rot“im Wiener Kleinformat; wütende Racheakte am früheren Chef sind liebenswürdiger Vergeblichkeit. Eine sehr unterhaltsame Angelegenheit – aber wie die meisten Wettbewerbsfilme des ersten Wochenendes kein wirkliches Bärenformat.
Und was sind die Abstiegsängste der Wiener Mittelklasse schon gegen die Probleme, mit denen in Alain Gomis’ „Félicité“die gleichnamige Barsängerin in Kinshasa zu kämpfen hat? Ihr Sohn wird bei einem Motorradunfall schwer verletzt und für die Operation fordert das Krankenhaus eine schwindelerregende Summe. „Félicité“ist eine stolze Frau, die Worte wie „bitte“und „danke“nicht in den Mund nimmt und sich damit keine Freunde macht. Trotzdem zieht sie los, um das Geld für die OP zusammenzubekommen. Die Handkamera folgt ihr durch die Nächte der Stadt und blickt der sozialen Realität direkt ins Auge. Aber dann beginnen Traum und Wirklichkeit ineinander zu verschwimmen. Der Film taucht tief ein in die Seele seiner Heldin und entlockt ihr am Ende ein erstes, aber unvergessliches Lächeln. Die kongolesische Schauspielerin Véro Tshanda Beya liefert eine Vorstellung von hinreißender Präsenz.