Friedberger Allgemeine

So normal wie möglich

In den Klassen für Kranke am Augsburger Josefinum bekommen junge Psychiatri­epatienten Unterricht. Das Ziel ist der Weg zurück in den Alltag. Für Schüler und Lehrer ist es ein Tanz zwischen zwei Extremen

- VON SEBASTIAN MAYR

Augsburg Dass hier fast nichts ist wie an anderen Schulen, fällt auf den ersten Blick kaum auf. Nur ein paar Sachen sind ungewohnt, doch das liegt am Umbau der Klassenräu­me. Hier wird in einem früheren Wohnhaus unterricht­et. Viele Zimmer sind klein, statt grüner Tafeln gibt es mobile Whiteboard­s.

Ungewöhnli­ch sind hier nicht nur die Klassenzim­mer. Viele Schüler kommen erst irgendwann im Laufe des Schuljahre­s. Manche bleiben für ein paar Wochen, andere viel länger. Es sind Schüler, die den Alltag anderswo nicht bewältigen konnten. Die Zimmer gehören zu den Klassen für Kranke in der Augsburger Klinik Josefinum. Angeschlos­sen sind sie an die Frère-Roger-Schule. Die Schüler dieser Klassen sind Patienten der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie im Josefinum, das mit den Außenstell­en in Kempten und Nördlingen für ganz Schwaben zuständig ist. Um die 1000 Patienten im Jahr werden hier stationär behandelt. Sie leiden an Depression­en, Angststöru­ngen und Essstörung­en, an Persönlich­keitsstöru­ngen, Entwicklun­gsstörunge­n und anderen Krankheits­bildern.

Patienten, die schulpflic­htig sind, besuchen die Klassen für Kranke – vorausgese­tzt, die Belastung ist nicht zu groß für sie. Der Unterricht ist ein Tanz zwischen den Extremen. Zwischen einem ganz normalen Alltag, den die Patienten erleben sollen. Und zwischen den individuel­len Bedürfniss­en, die sie wegen ihrer Krankheite­n haben.

Da ist zum Beispiel eine Schülerin, nennen wir sie Anna. Sie ist still und fällt in ihrer Klasse nicht übermäßig auf, scheint aber zu verstehen, worum sich der Unterricht dreht. Dass Anna oft ängstlich ist und an Depression­en leidet, wird erst bemerkt, als sie den Alltag nicht mehr bewältigt. Sie zieht sich in ihr Zimmer zurück, bricht die Kontakte zu den Freundinne­n ab, kommt kaum mehr in die Schule und wird dort immer schlechter. Im Josefinum entscheide­n Ärzte und Psychologe­n, dass feste Strukturen Anna zurück in den Alltag helfen sollen. Zeiten zum Schlafen, zum Aufstehen, zum Essen, für die Schule.

„Die Schule gehört in Deutschlan­d in einem gewissen Alter einfach zum Alltag“, sagt Christoph Woithon. Der Sonderschu­lpädagoge ist als zweiter Konrektor an der FrèreRoger-Schule für die Klassen für Kranke zuständig. „Für uns ist es wichtig, den Patienten so schnell wie möglich in die Normalität zu bringen“, ergänzt Vehbi Sakar, Oberarzt in der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie. Die Klassen für Kranke sollen eine Chance auf einen Neuanfang bieten oder bei der in den Alltag helfen. Sie sollen den jungen Patienten den Unterricht ermögliche­n, der ihnen vom Gesetz garantiert wird. Und sie sind Teil der Therapie am Josefinum.

Der Unterricht für Anna beginnt mit ein paar Stunden Mathe. Anna hat sich das gewünscht, sie mag Ma- the am liebsten. Unterricht­et wird sie von einer Lehrerin, weil sie mit Frauen besser zurechtkom­mt als mit Männern. Nach und nach kommen weitere Fächer und Stunden dazu, schließlic­h kehrt Anna an ihre ursprüngli­che Schule zurück.

Dass Schüler manches selbst entRückkeh­r

scheiden dürfen, hat seinen Grund. „Oft ist es für die Schüler wichtig, sich selbstbest­immt zu erleben. In die Psychiatri­e zu kommen, ist ja erst einmal ein persönlich­es Scheitern“, sagt Woithon.

Manchmal trägt die Schule Mitschuld am Scheitern. So wie bei Paul, dessen Name wie der von Anna erfunden ist. Paul geht in die Grundschul­e und fällt in seiner Klasse immer wieder auf. Inhaltlich scheint er alles zu verstehen, aber in der Klasse kommt er nicht zurecht. Es gibt Konflikte. Paul macht keine Hausaufgab­en mehr, wird schlechter, in der Familie gibt es deshalb Streit. Im Josefinum diagnostiz­ieren Ärzte eine Sprachvers­tändnisstö­rung. Wird eine Aufgabe visualisie­rt, weiß Paul, was zu tun ist. Worte allein genügen nicht. Ein Problem, das sich im Unterricht mit Folien oder Tafelbilde­rn lösen lässt. Doch zuerst muss Paul die Schule als einen Ort kennenlern­en, den er gern besucht.

Die echten Namen von Anna und Paul und weitere Details der Fälle verraten Woithon und Sakar nicht. Denn die Klassen für Kranke funktionie­ren nur durch das Vertrauen der Patienten und ihrer Eltern. Woithon und Sakar wollen das nicht gefährden. Die Lehrer der Klassen für Kranke müssen die Diagnosen aus dem Josefinum kennen, um die Schüler so zu unterricht­en, wie es nötig ist. Dem müssen die Eltern zustimmen. Genauso wie sie erlauben müssen, dass die Lehrer am Josefinum sich mit den Lehrern der ursprüngli­chen Schulen abstimmen.

Dass der Unterricht an den Klassen für Kranke individuel­l ist, liegt nicht nur an den Krankheits­bildern. Die Klassen sind oft jahrgangsü­bergreifen­d. Auf 14 Schüler kommt ein Lehrer, manchmal gibt es kleinere Lerngruppe­n. Vorstellen, sagt Christoph Woithon, könne man sich das etwa wie eine Nachhilfek­lasse. Jeder Schüler bekommt eigene Materialie­n, je nach Klasse, Schulart, Schulbuch. Schwierig ist das nur bei Grundschül­ern. Wer so früh in der Schule scheitert, dem fehlen zu viele Grundlagen, um in einer gemischten Gruppe unterricht­et zu werden.

Eines gilt für alle: Tests und Noten gibt es nur in Ausnahmefä­llen. So sieht es die bayerische Krankenhau­sschulordn­ung vor. Stattdesse­n schreiben die Lehrer Lernstandb­eschreibun­gen. Ist ein Schuljahr zu Ende, können die Schüler der Klassen für Kranke auf Probe vorrücken. Wie erfolgreic­h der Weg zurück in die Normalität war, erfahren Christoph Woithon und seine Kollegen nicht immer. Zwar verschicke­n sie Fragebögen an die Schulen, doch nicht alle kommen zurück. Die Antworten, die zurückkomm­en, seien zu einem sehr großen Teil positiv, sagt Woithon. Doch nicht allen Patienten gelingt der Weg zurück in die Normalität.

Ab einer gewissen Größe gebe es an jeder Schule Jugendlich­e, denen der Unterricht in Klassen für Kranke gut tun würde, sagt Christoph Woithon. Manche Fälle seien akut, manchmal könne Prävention helfen.

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 ?? Foto: Ulrich Wagner; Archivfoto: Winfried Karg, KJF ?? Christoph Woithon in einem der Übergangsr­äume für die Klassen für Kranke am Jo sefinum in Augsburg (oben). Eine Lehrerin der Frère Roger Schule im Gespräch mit einem Schüler (unten).
Foto: Ulrich Wagner; Archivfoto: Winfried Karg, KJF Christoph Woithon in einem der Übergangsr­äume für die Klassen für Kranke am Jo sefinum in Augsburg (oben). Eine Lehrerin der Frère Roger Schule im Gespräch mit einem Schüler (unten).

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