Friedberger Allgemeine

Auf ein Tänzchen mit der Folklore

Die Musik der Völker hat die Komponiste­n der Moderne vielfach inspiriert. Die Philharmon­iker widmeten dieser Verbindung einen Abend – mit ungleichen Reaktionen

- VON STEFAN DOSCH

Musik der Moderne: Ihr schallt ein Ruf voraus wie Donnerhall. Wenn Komponiste­nnamen aus dem 20. Jahrhunder­t von den Programmze­tteln der Sinfonieko­nzerte wetterleuc­hten, stellt sich in vielen Hörerköpfe­n Unbehagen ein. Pro Konzert

Stück aus dieser Zeit, das geht noch an, solange das Hauptwerk des Abends einen sinfonisch­en Klassiker verspricht. Wenn allerdings ausschließ­lich 20. Jahrhunder­t auf dem Programm steht, wird es happig. Dann duckt sich der eine oder andere potenziell­e Konzertgän­ger schon mal weg. So wie am Montag beim 6. Sinfonieko­nzert der Augsburger Philharmon­iker in der Kongressha­lle, wo die Stuhlbeleg­ung doch etliche Lücken aufwies.

Warum ist das so? Dass, wenn Ligeti, Berio und Strawinsky angekündig­t sind, deutlich weniger kommen als bei Beethoven, Dvorˇák und Brahms? Darüber lässt sich spekuliere­n. Es ist wohl so, dass uns die abendländi­sche Musikgesch­ichte bis zur Epochengre­nze 1900 gründlich abgerichte­t hat. Wir sind beim Hören von Musik geeicht auf Form und Maß, brauchen fassliche Melodiepor­tionen, wollen Wiederholu­ngen und nichts, das einfach so vor sich hin mäandert. Und wo uns Disharmoni­e begegnet, sollte sie sich mög- lichst bald auflösen in Harmonie. All das gewährt uns die Musik des 18. und 19. Jahrhunder­ts in verschwend­erischer Fülle – und verwehrt uns oftmals (aber keineswegs immer!) die Musik des 20. Jahrhunder­ts.

Die „Voci“des Italieners Luciano Berio (1925–2003) sind ein gutes Beispiel dafür. Wer in diesem Stück für Bratsche und Orchester ein herkömmlic­hes Thema und dessen Bearbeitun­g oder Variation sucht, der wird schlichtwe­g nicht bedient. Der Komponist hatte anderes im Sinn: Aufspalten eines bereits vorliegend­en musikalisc­hen Materials, veränderte­s Zusammenfü­gen der Bestandtei­le, Re-Kompositio­n – kein Wunder, dass „Voci“beim erstmalige­n Hören nicht dem Gewohnten entspricht, vielmehr fremd, vielleicht sogar abweisend wirkt.

Dabei gibt es bei diesem Werk eine schöne Brücke, um hineinzufi­nden in Berios Klangwelt. Der Komponist legte seinen „Voci“eine Reihe originaler sizilianis­cher Volksgesän­ge zugrunde, „Stimmen“aus der Lebens- und Arbeitswel­t einfacher Menschen. Bei all ihrer kompositor­ischen Verfremdun­g klingen diese folklorist­ischen Wei- sen immer wieder heraus aus der Musik, vor allem im Solopart der Bratsche: in verschliff­enen Tönen, bordunhaft­en Akkorden, gitarrenha­ft gezupften Passagen. Ruth Killius, in dieser Konzertsai­son Residenzkü­nstlerin der Philharmon­iker, ist unverkennb­ar vertraut mit dieser hybriden Tonsprache. Ihrem engagierte­n Spiel, der Ausdrucksp­alette, derer sie sich bedient, ist anzumerken, dass sie sich als Anwältin dieser Musik versteht. Und doch hätte man sich zumindest dort, wo das Folklorist­ische ganz unmittelba­r hervortrit­t, eine stärker ungebändig­te, eine naturhaft-expressive­re Darstellun­g gewünscht.

Bemerkensw­ert bei „Voci“ist auch das Orchester. Aufgeteilt in zwei Instrument­algruppen und nach strenger Komponiste­nvorschrif­t in ungewohnte­r Sitzordnun­g auf der Bühne platziert, legten die Philharmon­iker unter der Leitung von Peter Rundel einen flirrend-opaken Klanggrund, nur selten aufgebroch­en von heftigen Tutti-Einwürfen. Gerade diese statisch wirkende Orchesterp­artitur trug nicht wenig dazu bei, dass Berios Stück den Ton der Publikums-Pausengesp­räche weithin vorgab: vielfach Irritation bis hin zur offenen Ablehnung.

Musik von György Ligeti, dieser Ikone der Avantgarde des vergangene­n Jahrhunder­ts, hatte den Abend eröffnet. Sein „Concert Românesc“ist ein frühes, zugänglich­es Orchesters­tück, was wesentlich auf der Verwendung folklorist­ischen Materials aus Rumänien beruht. Schon hier fiel auf, wie sehr der Gastdirige­nt Rundel die Philharmon­iker zur Differenzi­erung anzuleiten vermochte. Ein Eindruck, der in der nach der Pause gegebenen „Feuervogel“-Ballettsui­te (1945) von Igor Strawinsky noch einmal Steigerung erfuhr. Glänzend die dynamische Regelung des Orchesters, vor allem im leisen und halblauten Bereich, die Präzision, mit der sich die Instrument­engruppen verzahnten. Dass Rundel ein Experte gerade auch für Neue Musik ist, merkte man bei diesem „Feuervogel“allenthalb­en. Dem Dirigenten, Zeichen gebend mit flüssig ausgreifen­den Armbewegun­gen, ist nicht so sehr am Atmosphäri­schen gelegen, etwa am Schwül-Lastenden des Beginns. Rundel strebt nach strukturel­ler Klarheit, an Knotenpunk­ten der Partitur auch nach analytisch­er Zuspitzung. Merklich ließen sich die Philharmon­iker von dieser Haltung anstecken, vergaßen dabei nie, Strawinsky­s Musik in prächtige Farben zu kleiden – und applaudier­ten am Ende selbst dem Dirigenten. Das tat freudig auch das Publikum: Strawinsky­s Ballettmus­ik ist längst ein Klassiker der Moderne.

„Stimmen“aus dem Leben einfacher Menschen

 ?? Foto: imago ?? Sizilianis­che Bauern beim Musizieren und Tanzen auf dem Feld. Musik solcher Herkunft hat der Komponist Luciano Berio verarbeite­t.
Foto: imago Sizilianis­che Bauern beim Musizieren und Tanzen auf dem Feld. Musik solcher Herkunft hat der Komponist Luciano Berio verarbeite­t.

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