Kopfüber
Ein verkünstelter „Kleiner Prinz“: Die Welt aus dem Blick eines heiligen Narren
Ist der Gedanke nicht zeitlos schön? Man schickt einen Menschen als Inbegriff der Unschuld durch die Welt. Und darin, wie diese Welt auf ihn reagiert, weil er noch dazu als Sonderling daherkommt, spiegelt sich die Absurdität, die Wahrheitsferne, die Unmenschlichkeit unserer vermeintlichen Normalität. Klar, kein neues Mittel. Heilige Narren mit ihren zumeist tragischen Schicksalen bevölkern die Literaturgeschichte, von Saint-Exupérys kindertauglichem „Der kleine Prinz“bis zu Dostojewskis „Der Idiot“. Aber es ist eben doch auch ein zeitlos schöner, moralischer Spiegel, oder?
Die in Paris lebende, 1964 in Offenbach geborene Anne Weber, die wechselnd auf Deutsch und Französisch veröffentlicht und zudem Prominenz wie Wilhelm Genazino übersetzt, war bereits 2010 mit „Luft und Liebe“für den Leipziger Buchpreis nominiert. Ihr jetzt auf der Shortlist stehender Roman spürt eben einem solchen heiligen Narren nach, dem Titelhelden Kirio. Dessen staunend offener Blick berührt und befremdet von seiner bereits rätselhaften Geburt an die Menschen. Und beides nimmt noch zu, weil er sich am liebsten kopfüber fortbewegt, auf Händen laufend und die Welt damit grundsätzlich aus anderer Perspektive wahrnehmend. Und diesen Propheten hält es nirgends lang, er lebt bei einer Taubstummen, mit der er die Liebe kennenlernt, lebt im Wald und spricht mit den Tieren und Pflanzen, lebt in Paris, wo er die Menschen mit seinem eigenwillig zauberhaften Flötenspiel und durch seine grenzenlose Empathie, Furchtlosigkeit und Urteilsfreiheit verzückt – aber eben dadurch auch Hass hervorruft …
Und Anne Weber erzählt nicht einfach nur davon, sie lässt eine rätselhaft übergeordnete Stimme Augenzeugenberichte abrufen – spricht da Gott, die Liebe, der Weltgeist oder gar der Tod? Märchenhaft? An einer Wissenschaftlerin mit dem natürlich sprechenden Namen Clémentine Ordinaire jedenfalls ist es, die zentrale Frage nicht nur über Kirio, sondern eigentlich über diesen ganzen Roman zu stellen. Ist das alles nun eine Verkörperung oder „Verkasperung“des Guten? Wäre die albern verkünstelte Erzählweise nicht Antwort genug – spätestens als Kirio dann auch noch in der Brüder-Grimm-Stadt Hanau die Kinder mit seinem Flötenspiel erfreuen will, aber dafür von heutigen Kids verdroschen wird, ist es eindeutig: Nein, dieser Roman ist nun wirklich keinen Preis wert.