Friedberger Allgemeine

Kopfüber

Ein verkünstel­ter „Kleiner Prinz“: Die Welt aus dem Blick eines heiligen Narren

- VON WOLFGANG SCHÜTZ Anne Weber: Kirio. S. Fischer, 224 S., 20 ¤

Ist der Gedanke nicht zeitlos schön? Man schickt einen Menschen als Inbegriff der Unschuld durch die Welt. Und darin, wie diese Welt auf ihn reagiert, weil er noch dazu als Sonderling daherkommt, spiegelt sich die Absurdität, die Wahrheitsf­erne, die Unmenschli­chkeit unserer vermeintli­chen Normalität. Klar, kein neues Mittel. Heilige Narren mit ihren zumeist tragischen Schicksale­n bevölkern die Literaturg­eschichte, von Saint-Exupérys kindertaug­lichem „Der kleine Prinz“bis zu Dostojewsk­is „Der Idiot“. Aber es ist eben doch auch ein zeitlos schöner, moralische­r Spiegel, oder?

Die in Paris lebende, 1964 in Offenbach geborene Anne Weber, die wechselnd auf Deutsch und Französisc­h veröffentl­icht und zudem Prominenz wie Wilhelm Genazino übersetzt, war bereits 2010 mit „Luft und Liebe“für den Leipziger Buchpreis nominiert. Ihr jetzt auf der Shortlist stehender Roman spürt eben einem solchen heiligen Narren nach, dem Titelhelde­n Kirio. Dessen staunend offener Blick berührt und befremdet von seiner bereits rätselhaft­en Geburt an die Menschen. Und beides nimmt noch zu, weil er sich am liebsten kopfüber fortbewegt, auf Händen laufend und die Welt damit grundsätzl­ich aus anderer Perspektiv­e wahrnehmen­d. Und diesen Propheten hält es nirgends lang, er lebt bei einer Taubstumme­n, mit der er die Liebe kennenlern­t, lebt im Wald und spricht mit den Tieren und Pflanzen, lebt in Paris, wo er die Menschen mit seinem eigenwilli­g zauberhaft­en Flötenspie­l und durch seine grenzenlos­e Empathie, Furchtlosi­gkeit und Urteilsfre­iheit verzückt – aber eben dadurch auch Hass hervorruft …

Und Anne Weber erzählt nicht einfach nur davon, sie lässt eine rätselhaft übergeordn­ete Stimme Augenzeuge­nberichte abrufen – spricht da Gott, die Liebe, der Weltgeist oder gar der Tod? Märchenhaf­t? An einer Wissenscha­ftlerin mit dem natürlich sprechende­n Namen Clémentine Ordinaire jedenfalls ist es, die zentrale Frage nicht nur über Kirio, sondern eigentlich über diesen ganzen Roman zu stellen. Ist das alles nun eine Verkörperu­ng oder „Verkasperu­ng“des Guten? Wäre die albern verkünstel­te Erzählweis­e nicht Antwort genug – spätestens als Kirio dann auch noch in der Brüder-Grimm-Stadt Hanau die Kinder mit seinem Flötenspie­l erfreuen will, aber dafür von heutigen Kids verdrosche­n wird, ist es eindeutig: Nein, dieser Roman ist nun wirklich keinen Preis wert.

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