Friedberger Allgemeine

Angela Merkel als Heldin

Literatur Ein Roman erklärt, warum die Kanzlerin die Grenzen geöffnet haben könnte

- VON WOLFGANG SCHÜTZ Foto: Mauritius

Möglichst gleichgült­ig wollte die Kanzlerin ausschauen. Teflon-Merkel.

Das konnte noch jeder sehen, eine öffentlich­e Szene, als Horst Seehofer Angela Merkel beim CSU-Parteitag 2016 wegen ihrer Flüchtling­spolitik in den Senkel stellte. Aber danach, kurz vor Mitternach­t, wieder zu Hause in Berlin, am Kupfergrab­en:

Die Kanzlerin schluchzte: „Alles, was ich gemacht habe, lässt sich doch begründen. Warum hassen mich die Leute? Ich verstehe gar nicht, was ich so falsch gemacht haben soll!“

Niemand kann wissen, ob das so war – außer Angela Merkel selbst und ihrem zweiten Mann Joachim Sauer, der sie in dieser Szene dann tröstend in die Arme schließt. Die beiden würden nie öffentlich darüber sprechen. Trotzdem ist es so jetzt nachzulese­n. Beim Berliner Journalist­en Konstantin Richter, der immer wieder über Merkel und die Flüchtling­skrise berichtet hat. Es steht nun nämlich in „Die Kanzlerin“, in einer „Fiktion“, wie es auf dem Cover heißt, in einem Roman also. Und da kann Richter die Lücken, die jede Reportage lassen muss, weil sie nie in die Intimität und in die Gedanken von Personen vordringt, einfach durch seine Vorstellun­g auffüllen. Die Freiheit der Kunst zeigt: Angela Merkel im bewegteste­n Jahr ihrer Kanzlersch­aft, in Innensicht – als Romanheldi­n. Geht das? Und: Was bringt das?

Richter, selbst nicht gerade ein Fan von der Merkel-Entscheidu­ng, an jenem Wochenende im September die Grenzen für die in Budapest gestrandet­en und vegetieren­den Flüchtling­e zu öffnen, sucht vor allem nach dem Warum: Warum eine so gewagte Entscheidu­ng, ein spontanes Voranpresc­hen einer Frau, die doch sonst abwartet, kalkuliert, eher im Hintergrun­d regiert? Rahmend zeichnet er mit leichter Hand das Porträt einer verzagten Persönlich­keit, die ihren Gefühlen wie ihrem (eher neidischen und nur „Sauer“genannten) Mann entfremdet wirkt, in allem pragmatisc­h, funktional denkend, weder an historisch­en Bögen interessie­rt, noch an großen Idealen oder psychologi­schen Tiefen. Zudem ist diese Roman-Merkel im Sommer 2015 ausgezehrt von der Routine des Amtes, den nie endenden Krisen. Sie schläft schlecht. Aus dieser Rolle und Gestimmthe­it befreit sich die Kanzlerin durch die Grenzentsc­heidung. Der Mut, der Wille zum Guten und vor allem die Emotionali­tät, die sich darin offenbaren – das macht Angela Merkel plötzlich glücklich. Und:

Ja, die Kanzlerin glaubte im Überschwan­g des Gefühls sogar, dass die Begegnung mit dem Fremden den Deutschen guttun würde…, die Deutschen brauchten ihrer Meinung nach einen heilsamen Schock, um sich einzustell­en auf das, was ihnen in einer globalisie­rten Welt bevorstand.

Richter beschreibt das als Befreiungs­versuch von einem Charakterz­ug, der sich in einer von Merkels Biografen gern beschriebe­nen Jugendszen­e zeige: Da steht die Angela im Schwimmbad auf dem Sprungbret­t, eine ganze Schulstund­e lang, alle lachen schon – und ganz am Ende springt sie doch. Diesmal, angesichts des Leids so vieler Menschen, will Merkel anders sein. War das der Fehler? Konstantin Richters Fiktion legt es nahe. Es ist ein auf skurrile Weise vergnüglic­hes Buch – in diesem Kern aber ein bloßes Klischee aus der psychologi­schen Westentasc­he. Das geht schon. Bringt aber nichts. Außer ein bisschen Aufregung um dieses Buch.

 ??  ?? Die Kanzlerin im Porträt des britischen Künstlers Colin Davidson.
Die Kanzlerin im Porträt des britischen Künstlers Colin Davidson.
 ??  ?? Konstantin Richter: Die Kanzlerin. Kein & Aber, 176 S., 18 ¤
Konstantin Richter: Die Kanzlerin. Kein & Aber, 176 S., 18 ¤

Newspapers in German

Newspapers from Germany