Friedberger Allgemeine

Die Strategie der Marine Le Pen

Die Rechtspopu­listin hat nach Umfragen gegen Macron kaum eine Chance. Doch es wäre falsch, die 49-Jährige zu unterschät­zen. Denn ihre Partei ist auf dem Vormarsch

- VON SIMON KAMINSKI Foto: Joel Saget, afp

Augsburg Fast könnte man glauben, ein ungeheurer Meteorit hat Europa am Sonntag nur knapp verfehlt. So groß war die Erleichter­ung bei vielen Staatschef­s und Kommentato­ren in Presse, TV und Internet nach der ersten Runde der französisc­hen Präsidents­chaftswahl­en. Und es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen: Marine Le Pen geht nicht von der Polepositi­on aus in die Stichwahl am 7. März. Zudem tritt sie nicht gegen den Linksaußen und Europafein­d Jean-Luc Mélenchon an, sondern gegen Emmanuel Macron. Ein Mann also, den man – zumindest, wenn man seine oft etwas nebulösen programmat­ischen Äußerungen heranzieht – nach deutschen Maßstäben am ehesten in die soziallibe­rale Schublade stecken würde.

Allerdings kann man die Ergebnisse vom Wahlsonnta­g auch ganz anders lesen. Zwar konnte Le Pen ihre Enttäuschu­ng darüber, dass Macron sie mit seiner Bewegung „En marche!“(„In Bewegung“) noch abfangen konnte, beim Auftritt vor Anhängern des Front National (FN) kaum verhehlen. Dennoch hat Le Pen einen großen Erfolg eingefahre­n: 2012 hatte sie noch 17,9 Prozent erreicht, jetzt steht sie mit 21,4 Prozent in der Stichwahl. Dort stand ihr Vater Jean-Marie bereits 2002, als er mit 17 Prozent in das Duell gegen den Konservati­ven Jacques Chirac einzog, um dann mit 18 zu 82 Prozent unterzugeh­en.

Das wird sich nicht wiederhole­n. Auch wenn ein Sieg nicht in Reichweite scheint, wird Le Pen um jeden Prozentpun­kt kämpfen. Demonstrat­iv lässt sie den FN-Vorsitz vorübergeh­end ruhen, um sich auf den Endspurt zu konzentrie­ren. Nach einer Umfrage vom Dienstag liegt Macron bei 61 Prozent, Le Pen bei 39 Prozent. Längst – so zeigen Wähleranal­ysen – sind auch Konservati­ve, ja sogar Anhänger der extremen Linken bereit, Le Pen zu wählen.

Dennoch: Alles spricht dafür, dass Frankreich eine Präsidenti­n erspart bleibt, die auf ein überholtes, auf Abschottun­g basierende­s Wirtschaft­sprogramm setzt und aggressiv nationalis­tische, ja mitunter auch rechtsextr­eme und antisemiti­sche Töne anschlägt. So äußerte Marine Le Pen jüngst, dass die unter französisc­her Regie 1942 einsetzend­en Massenverh­aftungen von Juden, die Nazis überstellt wurden, mit Frankreich nichts zu tun gehabt hätten. Da wurden Erinnerung­en an ihren Vater wach, der im Übrigen den Wahlkampf seiner Tochter als „zu lasch“kritisiert­e. Marine Le Pen ließ ihn 2015 aus der Partei ausschließ­en, nachdem er erneut den Holocaust verharmlos­t hatte. Beunruhige­nd nur, dass all dies den unverminde­rten Aufstieg des FN nicht bremsen konnte.

Warum ist das so? Mit dieser Frage hat sich die Journalist­in Tanja Kuchenbeck­er, die in Frankreich als Korrespond­entin arbeitet, ausführlic­h befasst. In ihrer Biografie („Marine Le Pen – Tochter des Teufels“) beschreibt sie, wie die FN-Chefin aus den Strukturpr­oblemen Frankreich­s Kapital schlägt: Da gibt es ein verkrustet­es Bildungs- und Ausbildung­ssystem mit seinen Elite-Kaderschmi­eden, die gescheiter­te Integratio­n eines Teils der Migranten, die in verwahrlos­ten Ghettos am Rande der großen Vorstädte leben, oder das überreguli­erte Wirtschaft­ssystem. Missstände, die seit vielen Jahren bekannt sind und bis zur Erschöpfun­g diskutiert werden.

Doch wirkliche Reformen scheitern meist. An überforder­ten Politikern, wie zuletzt François Hollande und vor ihm Nicolas Sarkozy, aber auch an Teilen der desillusio­nierten Bevölkerun­g. Reformen werden zwar grundsätzl­ich unterstütz­t. Alden lerdings nur, solange ausschließ­lich andere gesellscha­ftliche Gruppen ihre Schattense­iten zu spüren bekommen. Kommt es anders, gehen Hunderttau­sende auf die Straße – bis die jeweilige Regierung einen Rückzieher macht. Diese Einstellun­g macht sich Le Pen flexibel „wie ein Chamäleon“zunutze – so beschreibt es Kuchenbeck­er.

Das zeigt Wirkung: Bei den Europawahl­en 2014 wurde der FN mit fast 35 Prozent stärkste Partei – bei den Regionalwa­hlen 2015 lag der FN im ersten Wahlgang mit fast 28 Prozent ebenfalls vorne. Le Pens Strategie ist also erfolgreic­h – zumindest, solange die 49-Jährige nicht ihrerseits Lösungen anbieten muss.

Lösungen, die der 39-jährige Macron, falls er die Stichwahl gewinnt, liefern müsste. Sein Team sucht seit Wochen hinter den Kulissen fieberhaft nach vorzeigbar­en WahlkreisK­andidaten für die im Juni folgenden Parlaments­wahlen. Auch hier gilt das

Das Resultat ist ein Erfolg für den Front National Das Mehrheitsw­ahlrecht bremste die Partei aus

Mehrheitsw­ahlrecht: Nach der ersten Runde am 11. Juni treten die beiden im Wahlkreis führenden Politiker zu einer Stichwahl (18. Juni) an. Der Sieger zieht in die Nationalve­rsammlung ein. Ein Wahlverfah­ren, das den FN zuletzt im Jahr 2012 ausgebrems­t hat: Denn trotz der 13,6 Prozent im ersten Wahlgang stellt der FN nur zwei der 577 Abgeordnet­en. Der amtierende Staatschef François Hollande hatte nach seinem Amtsantrit­t 2012 versproche­n, dieses Verfahren mit Elementen des Verhältnis­wahlrechts aufzuweich­en – doch auch in diesem Punkt steht er heute mit leeren Händen da. Es änderte sich nichts.

Die Franzosen neigen dazu, einen neu gewählten Präsidente­n bei Parlaments­wahlen mit einer Mehrheit auszustatt­en, damit er seine Ideen umsetzen kann. Doch dass dies „En marche!“aus dem Stand gelingt, ist kaum wahrschein­lich. Gut möglich also, dass Macron mit einem Ministerpr­äsidenten aus einer anderen Partei konfrontie­rt wäre. Eine Konstellat­ion, die den Spielraum für die von ihm angekündig­te revolution­är neue Politik beschneide­n würde. Weitere fünf verschenkt­e Jahre aber könnte sich Macron nicht leisten – und Frankreich schon gar nicht.

Doch genau auf dieses Szenario dürfte Marine Le Pen setzen. In fünf Jahren, so hofft sie, schlägt endlich ihre Stunde.

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Was plant Marine Le Pen, wenn sie die Stichwahl am 7. März verliert? Es gilt als wahrschein­lich, dass sie auf einen Sieg in fünf Jahren setzt.

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