„Der Hiasi war mir nie eine Last“
Wilhelm Wachinger aus Dasing pflegte jahrzehntelang seinen schwerstbehinderten Bruder. Jetzt bekommt er dafür das Bundesverdienstkreuz. Wie sah sein Leben aus?
Dasing So ganz begreift Wilhelm Wachinger aus Dasing immer noch nicht, warum er jetzt das Bundesverdienstkreuz bekommen hat. „Das hätt’s doch nicht gebraucht“, sagt er gestern – einen Tag, nachdem ihm die bayerische Sozialministerin Emilia Müller den Orden in München ans Revers seines Trachtenjankers geheftet hat. „Den Matthias zu pflegen, war mir nie eine Last. Das hat halt dazugehört.“Jahrzehntelang hat Wilhelm Wachinger, inzwischen 66 Jahre alt, seinen schwerstbehinderten Bruder Matthias gepflegt: Von 1989, als ihre Mutter krank wurde, bis zu Matthias’ Tod im vergangenen Jahr. 72 Jahre war der „Hiasi“, wie man ihn der Familie liebevoll nannte, da. Als er in den 40er-Jahren geboren wurde, sagten die Ärzte, er werde nicht einmal 20 werden.
Gelähmt, blind und geistig behindert war Matthias Wachinger seit dem Tag seiner Geburt. Es war ein tragisches Schicksal, das heutzutage vermutlich anders verlaufen würde: Die Hebamme dachte 1944 bei der Hausgeburt, der kleine Bub sei tot zur Welt gekommen. Sie bettete ihn zur Seite – eine halbe Stunde später machte er mit kläglichem Geschrei auf sich aufmerksam. Durch den Sauerstoffmangel bei der Geburt und danach hatte er jedoch schwers- te Schäden davongetragen. In der jetzigen Zeit würde sich eine Heerschar von Ärzten, Therapeuten und Pädagogen um solch ein Kind bemühen, es bekäme Förderung und würde eine Spezialeinrichtung besuchen. Damals kümmerte sich die Familie um den Hiasi. Die Mutter bekam noch drei weitere Kinder, arbeitete mit ihrem Mann in der kleinen Landwirtschaft. Ging sie aufs Feld oder fuhr in den Wald, kam der behinderte Bub eben mit.
Der Vater baute einen Spezialsitz für den Wagen, denn Matthias konnte nur sitzen oder liegen. Trotzdem, erinnert sich sein jüngerer Bruder, sei er ein fröhlicher Mensch gewesen. Das Wichtigste für Matthias war die Musik, und zwar Volksmusik. Der Radiosender
Bayern 1 musste immer eingeschaltet sein, und bei vielen Liedern summte Hiasi mit. Wenn man morgens ins Zimmer kam, habe er einen schon angelächelt, erinnert Wachinger sich. Den Bruder ins Heim geben, war das eine Option? „Nein“, meint Wachinger. „Das hätte ich nicht übers Herz gebracht.“Matthias hatte sein eigenes Zimmer – im Erdgeschoss des Hauses, damit er immer nahe am Geschehen war.
Zur Diskussion stand das Thema Heim ohnehin erst später, als die Mutter krank wurde und schließlich starb. Damals sprang die ganze Familie ein: Wilhelm Wachinger, der inzwischen verheiratet war und zwei Söhne hatte, seine damalige Ehefrau, die Schwestern. Wachinger, der stets im Elternhaus lebte, übernahm den Großteil der Pflege. Schwierig sei es nur gewesen, wenn er in Urlaub fuhr, denn Matthias weinte jedes Mal, wenn er zur Kurzzeitpflege ins Heim musste.
Dankbar ist Wachinger, der inzwischen in Rente ist, seinem Arbeitgeber. Der Schreiner arbeitete 37 Jahre bei der Firma Pletschacher. Als er sagte, er könne wegen des Bruders nicht mehr länger auf Montage weg, war das kein Problem. Auch mittags durfte er stets nach Hause, um seinem Bruder Essen zu geben. Nebenbei engagierte er sich in Vereinen, kümmerte sich um den Wald, nachdem die Familie die Landwirtschaft aufgegeben hatte. Hat das viel Kraft gekostet? „Nein“, sagt der 66-Jährige, „der Hiasi und ich, wir haben uns sehr gern gemocht.“Erst als der mittlerweile Alleinstehende vor einigen Jahren selber krank war, bestellte er einen Pflegedienst zur Hilfe. Und als der Bruder starb, hielt er seine Hand. Jetzt könnte er seine Unabhängigkeit genießen, wie er will. In den Urlaub zieht es den Dasinger trotzdem nicht. „Ich bin froh, wenn ich hierbleiben kann.“Selbst der Ausflug nach München zu der Ehrung war nicht ganz Seines: „Das war mir eher peinlich.“