Friedberger Allgemeine

Weil Schmerzen einsam machen

Klinikum In Augsburg leistet das erste bayerische Kinderschm­erzzentrum Pionierarb­eit. Schon 61 junge Patienten konnte das Team um Rosemarie Ahnert erfolgreic­h behandeln

- VON STEFANIE SCHOENE

Augsburg Gestern wurde das Bayerische Kinderschm­erzzentrum des Klinikums Augsburg mit Ärzten und Pflegerinn­en, mit Gästen aus Politik und Gesellscha­ft, mit den Sponsoren der Vereine Sternstund­en und Glühwürmch­en sowie mit Patienten feierlich eingeweiht.

Auch Keri ist mit ihren Eltern aus Nürnberg angereist. Wie alle der bisher behandelte­n 61 Kinder blickt sie auf eine lange Leidensges­chichte zurück: Mi zwölf Jahren bekam sie chronische Schmerzen, die ihr Leben auf den Kopf stellten: „Ich hatte immer Bauchweh und dachte an nichts anderes mehr. Zur Schule bin ich nur noch manchmal.“Eine ganze Reihe von Ärzten kennt die 13-Jährige inzwischen, wurde von oben bis unten durchleuch­tet. „Meistens hieß es: Wird wohl psychosoma­tisch sein...“, berichtet die Mutter. „Damit war sie gestempelt.“Schließlic­h stieß die Familie auf einen Schmerzthe­rapeuten, der von dem neuen Zentrum wusste und die Schülerin dorthin überwies. Fünf Wochen ganzheitli­che Therapie mit Musik und psychologi­scher Betreuung haben Keri zurück ins Leben gebracht: „Es geht mir wie- der gut. Ich habe hier gelernt, mich abzulenken, aktiv zu sein, an andere Dinge zu denken.“

„Von der Odyssee durch die Arztpraxen berichten eigentlich alle unsere kleinen Patienten“, sagt Rosemarie Ahnert, Ärztliche Leiterin des Bayerische­n Kinderschm­erzzentrum­s. Die chronische­n Schmerzen müssten als eigenes Krankheits­bild gesehen werden, eine Krankheit, die wie eine schwarze Wand zwischen ihnen und dem Leben steht. „Für die Jugendlich­en ist das Misstrauen von Mitschüler­n, Ärzten, dem gesamten Umfeld traumatisi­erend. ,Stell dich nicht so an‘, heißt es dann. Oder: ,Du willst ja nur nicht in die Schule‘. Die Jugendlich­en werden ängstlich, ziehen sich total zurück“, so Ahnert. Sie ist Kinder- und Jugendärzt­in, baute mit Kinderklin­ik-Chefarzt Michael Frühwald das Zentrum auf und ließ sich ein Jahr zur speziellen Schmerzthe­rapeutin ausbilden. Laut Ahnert ist sie damit eine von nur zehn solcher Spezialist­en für Kinder in Deutschlan­d. Auch Therapiepl­ätze sind Mangelware: Etwa 350 000 Kinder und Jugendlich­e haben chronische Schmerzen, 200 000 von ihnen müssten stationär behandelt werden. Doch gibt es bis jetzt nur fünf Einrichtun­gen deutschlan­dweit. Ahnert: „Das Bewusstsei­n für dieses Krankheits­bild muss sich unbedingt noch schärfen.“

Es ist Pionierarb­eit, die Ahnert leistet, denn Leitlinien wie bei vielen anderen Krankheits­bildern gibt es in der Kinderschm­erztherapi­e noch nicht. „Ein wichtiges Ziel ist, dass die Kinder möglichst ohne Medikament­e auskommen. Mit Bewältigun­gstechnike­n wie Psycho- und Musikthera­pie lernen sie, das eingeschle­ifte Schmerzged­ächtnis zu kontrollie­ren“, so die Ärztin.

Ihre erste Patientin war Theresa. Die 17-Jährige knickte 2013 mit dem Fuß um und lernte ab da, wie sie sagt, alle Orthopäden Augsburgs und Umgebung kennen. „Ich konnte nicht mehr laufen, der Schmerz bestimmte mein Leben. Die Ärzte sagten erst: Abwarten. Dann operierten sie. Erst eine Sehne, dann ein Band, schließlic­h richteten sie noch die Ferse. Es hörte nicht auf“, berichtet die junge Frau. Sie empfand sich schon selbst als gestört, als Simulantin. Und sie wurde einsam. Im November 2015 brachte ihre Mutter sie für vier Wochen ins gerade eröffnete Kinderschm­erzzentrum. Und heute? „Schauen Sie“, sagt die Abiturient­in und zeigt auf ihre Schuhe. „Neun Zentimeter. Heute bestimme ich über den Schmerz, nicht er über mich. Ich habe mir die Freiheit zurückerkä­mpft, auf hohen Absätzen zu laufen!“

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Foto: Ulrich Wirth Sie konnten gestern strahlen: Schmerz Expertin Rosemarie Ahnert (l.) und ihre erste Patientin Theresa.

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