Friedberger Allgemeine

Als die Uhr stehen blieb

Ein Syrer schreibt auf Deutsch über seine Flucht vor dem Bürgerkrie­g. Wie das „Geisterdor­f“Dasing für Hothaefa Al-Sheik zu einem Glücksfall wird

- VON ANNA SCHUBERT

Friedberg „Ich habe die hohen Wellen und das Salzwasser gesehen. Dann habe ich darüber nachgedach­t, wie man unter Wasser atmen kann.“Der 28-jährige Hothaefa AlSheik steht am Strand von Izmir, Türkei. Es ist eine der letzten Nächte, bevor das Schlauchbo­ot, das er und sein Bruder sich zusammen mit rund 30 weiteren Flüchtling­en teilen werden, in Richtung Europa ablegt. Über den Weg von seiner geliebten Heimatstad­t Ar-Raqqa im Osten Syriens nach Deutschlan­d berichtet er in seinem Buch „Flucht nach vorn“. Geschriebe­n hat er es in deutscher Sprache, obwohl er erst vor zwei Jahren Fuß auf deutschen Boden gesetzt hat.

Im Augsburger Stadtviert­el Kriegshabe­r hängt der blumige Geruch von arabischem Kaffee im Raum. Barfuß sitzt Hothaefa AlSheik an seinem Wohnzimmer­tisch. Er ist erleichter­t und besorgt zur selben Zeit. Mittlerwei­le hat er seine Aufenthalt­sgenehmigu­ng, zahlreiche bürokratis­che Hürden genommen, arbeitet als Lehrer für Deutsch und Arabisch. Er gehört zu denen, die es geschafft haben, Fuß zu fassen, ein Musterbeis­piel für gelungene Integratio­n.

Das ist die glänzende Seite der Medaille. Was trotz allem bleibt, sind die Ursachen, die ihn zur Flucht getrieben haben. Der Bürgerkrie­g in Syrien tobt weiter und noch immer wagen Menschen wie er den gefährlich­en Weg über die Balkanrout­e nach Deutschlan­d. Dies ist der Grund, weshalb er nun ein Buch geschriebe­n hat: „Dass Flucht schwierig ist, weiß jeder. Aber wenn man es selbst erlebt hat, dann ist es ganz anders.“Zehn vor sechs zeigen die Zeiger seiner Armbanduhr, als das Salzwasser das Uhrwerk flutete. Es ist der Moment, als der Schlepper mit einem Messerstic­h das Schlauchbo­ot gezielt zum Sinken um Beweise zu vernichten und die Küstenwach­e zum Handeln zu zwingen. Die Insassen des Schlauchbo­ots werden dem Meer überlassen. Hothaefas Uhr bleibt stehen und sie steht bis heute. Um sich den Tod ins Gedächtnis zu rufen und als Erinnerung an seine Neugeburt, als die griechisch­e Küstenwach­e ihn aus dem Wasser fischte. Von diesem und weiteren Erlebnisse­n schreibt der Syrer, der zuvor in Ar-Raqqa als Englischle­hrer unterricht­et hatte, in seinem ersten Buch. Einem Projekt, das zunächst gar keine Publikatio­n zum Ziel hatbringt, te. Während eines Zeitungspr­aktikums entstand, damals noch unter einem Pseudonym, die zwölfteili­ge Serie „Omars Flucht“, in der Hothaefa Al-Sheik wöchentlic­h ein Kapitel von seinem Weg nach Deutschlan­d erzählte. Seine Kollegen ermutigten ihn später, mit der Geschichte fortzufahr­en. „Dann habe ich weitergesc­hrieben, über meine Erfahrunge­n hier in Deutschlan­d, darüber, wie es ist, noch einmal von vorne anzufangen“, sagt der heute 31-Jährige.

Mit der Ankunft in Deutschlan­d beginnt der zweite Teil des Buches. Die Gemeinde Dasing wird Hothaefa ein neues Zuhause. Das „Geisterdor­f“, wie er es zu seiner nächtliche­n Ankunft noch beschreibt, soll sich später als Glücksfall erweisen. Denn er hat es nicht nur seinem Ehrgeiz zu verdanken, dass er sich heute in der deutschen Sprache nahezu mühelos bewegt. Das Zaubermitt­el arabischer Tee brachte alles ins Rollen: „Tee ist sehr wichtig für uns, fast wie Kaffee oder Bier für die Deutschen“, betont der Syrer, „und er öffnet Herzen.“Mit der Einladung auf einen Tee trauten sich die ersten Dasinger über die Türschwell­e der Asylunterk­unft. Es war der Anstoß für die ersten deutschen Gespräche mit Menschen, die er mittlerwei­le Freunde nennt. „Von ihnen habe ich sehr viel Unterstütz­ung erhalten, auch bei meinem Buch.“Ein Buch, das nicht nur die schrecklic­hen Seiten der Flucht kennt. Es berichtet auch von Träumen und Hoffnungen, die ein junger Muslim hat, der nach Deutschlan­d kommt. Und es bringt einen zum Schmunzeln, beispielsw­eise wenn Hothaefa erzählt, wie er als Syrer anfangs etwas unbeholfen durch die deutsche Kultur stolperte. Heute kann er darüber lachen: „Wir Syrer sind ein sehr lustiges Volk. Man muss immer optimistis­ch sein, das hilft wirklich sehr.“Daher rührt auch der Titel des Buches. „Für uns gab es immer nur eine Richtung. Zurück ging es nicht mehr, also nach vorn.“

Das Buch „Flucht nach vorn“ist für 9,80 Euro in den Buchhandlu­ngen Le senswert und Gerblinger in Friedberg er hältlich.

 ?? Foto: Anna Schubert ?? „Flucht nach vorn“ist Hothaefa Al Sheiks erstes Buch. Geschriebe­n hat er es nicht in seiner Mutterspra­che Arabisch, sondern auf Deutsch.
Foto: Anna Schubert „Flucht nach vorn“ist Hothaefa Al Sheiks erstes Buch. Geschriebe­n hat er es nicht in seiner Mutterspra­che Arabisch, sondern auf Deutsch.

Newspapers in German

Newspapers from Germany