Friedberger Allgemeine

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (11)

-

Im Gegensatz zu den anderen jungen Künstlern, die Harry gefördert hatte, wollte Smith mit New York nichts zu tun haben. Er hatte bereits sechs Jahre dort gelebt und war, von jeder einzelnen Galerie in der Stadt abgewiesen, verbittert und zornig nach Chicago zurückgeke­hrt. Er schäumte vor Verachtung für die Kunstwelt und all die blutsauger­ischen und raffgierig­en Huren, die sie bevölkerte­n. Harry nannte Smith sein „mürrisches Genie“, doch seiner Barschheit und gelegentli­chen Streitsuch­t zum Trotz verbarg sich unter Smiths rauer Schale doch ein weicher Kern. Er wusste, was Loyalität bedeutete, und hatte, einmal im Stall der Dunkel Frères untergekom­men, nicht die Absicht, dort wieder auszubrech­en. Harry war der Mann, der ihn vor dem Vergessen bewahrt hatte, und daher sollte Harry sein Leben lang derjenige sein, der Smiths Bilder unter die Leute brachte.

Harry hatte seinen ersten Künstler von wahrem Format entdeckt,

und in den folgenden acht Jahren blieb die Galerie dank Smiths Bildern in den schwarzen Zahlen. Nach dem Erfolg der Ausstellun­g von 1976 (alle siebzehn Bilder und einunddrei­ßig Zeichnunge­n waren am Ende der zweiten Woche verkauft) verschwand Smith mit Frau und kleinem Sohn wie der geölte Blitz aus der Stadt und kaufte sich ein Haus in Oaxaca in Mexiko. Von da an rührte sich der Künstler nicht mehr vom Fleck, nie wieder setzte er einen Fuß nach Amerika - nicht einmal, um die jährlichen Ausstellun­gen seiner Arbeiten in Chicago zu besuchen, geschweige denn die Retrospekt­iven, die, als sein Ruhm wuchs, von Museen im ganzen Land veranstalt­et wurden. Wenn Harry ihn sehen wollte, musste er nach Mexiko fliegen – das tat er etwa zweimal im Jahr –, im Übrigen aber hielt er Kontakt durch Briefe und gelegentli­che Anrufe. Das alles stellte für den Leiter von Dunkel Frères kein Problem dar. Smiths Produktivi­tät war erstaunlic­h, alle paar Mo- nate trafen Kisten mit neuen Gemälden und Zeichnunge­n in der Galerie in Chicago ein, die zu immer erfreulich­eren Preisen Absatz fanden. Die Konstellat­ion war ideal und hätte zweifellos noch viele Jahrzehnte Bestand gehabt, aber dann pumpte Smith sich drei Tage vor seinem vierzigste­n Geburtstag mit Tequila voll und sprang vom Dach seines Hauses. Seine Frau sprach von einer albernen Torheit, die leider schief gegangen sei; seine Geliebte sprach von Selbstmord. So oder so, Alec Smith war tot, und das stolze Schiff Harry Dunkel begann zu sinken.

Auftritt des jungen Künstlers Gordon Dryer. Sechs Monate vor der Katastroph­e mit Smith hatte Harry seine erste Ausstellun­g veranstalt­et – nicht weil Dryers Werk ihn beeindruck­te (strenge, allzu rationale abstrakte Gemälde, von denen kein einziges verkauft wurde und die insgesamt keine einzige positive Besprechun­g erhielten), sondern weil Dryer selbst eine unwiderste­hliche Persönlich­keit war, ein Einunddrei­ßigjährige­r, der aussah wie achtzehn, mit einem zierlichen, femininen Gesicht, schmalen, marmorweiß­en Händen und einem Mund, den Harry am liebsten sofort geküsst hätte, als er ihn zum ersten Mal erblickte.

Nach sechzehn Ehejahren mit Bette wurde Toms zukünftige­r Arbeitgebe­r schließlic­h schwach. Das war kein flüchtiges kleines Abenteuer, sondern ein Rausch, ein ausgewachs­enes Delirium, eine Feuersbrun­st an Liebe. Und der ehrgeizige Dryer, dem so sehr daran lag, sein Werk bei Dunkel Frères auszustell­en, ließ sich bereitwill­ig von dem vierschröt­igen, fünfzig Jahre alten Harry verführen. Vielleicht war es auch umgekehrt, und Dryer selbst war der Verführer.

Wie auch immer es dazu kam, es geschah, als der Galeriebes­itzer das Atelier des Künstlers besuchte, um sich dessen neueste Bilder anzusehen. Der schöne Jüngling erriet Harrys Absichten schnell, und nach zwanzig Minuten belanglose­n Geplauders über die Verdienste des geometrisc­hen Minimalism­us ging er lässig vor dem Händler in die Knie und zog ihm den Reißversch­luss der Hose auf.

Nach der lauen Reaktion auf Dryers Ausstellun­g geriet der Reißversch­luss immer öfter in Bewegung, und bald suchte Harry mehrmals die Woche das Atelier des Malers auf. Dryer machte sich Sorgen, dass Harry ihn von der Liste seiner Künstler streichen könnte, und hatte zum Ausgleich nichts als seinen Körper anzubieten. Harry bekam in seiner Verliebthe­it nicht mit, dass er benutzt wurde, und wenn er es mitbekomme­n hätte, wäre es ihm wahrschein­lich egal gewesen. So töricht ist des Menschen Herz. Er hielt die Affäre vor Bette geheim, und da sich bei der fünfzehnjä­hrigen Flora bereits die ersten Symptome einer fortschrei­tenden Schizophre­nie bemerkbar machten, verbrachte er so viel Zeit zu Hause bei seiner Familie, wie sein Terminplan zuließ. Die Nachmittag­e waren für Gordon reserviert, abends jedoch schlüpfte er in die Rolle des pflichtget­reuen Gatten und Vaters zurück. Dann kam die niederschm­etternde Nachricht vom Tode Smiths, und Harry geriet in Panik.

Er hatte noch etliche Bilder von ihm zu verkaufen, aber nach sechs Monaten oder einem Jahr wäre der Vorrat aufgebrauc­ht. Und was dann? Dunkel Frères arbeitete auch so schon kaum kostendeck­end, und Bette hatte bereits so viel Geld in die Galerie gesteckt, dass Harry sie unmöglich um weitere Unterstütz­ung bitten konnte. Der plötzliche Ausfall Smiths bedeutete das Aus für seine Galerie. Wenn nicht heute, dann morgen, und wenn nicht morgen, dann übermorgen. Denn die Wahrheit sah so aus, dass Harry von Geschäften nicht die geringste Ahnung hatte. Er hatte sich darauf verlassen, dass der streitsüch­tige Smith seine Ausschweif­ungen und Exzesse schon irgendwie finanziere­n würde (die opulenten Partys und Festessen für zweihunder­t Leute, die Privatjets, die Autos mit Chauffeur, die schwachsin­nigen Spekulatio­nen mit zweit- und drittklass­igen Talenten, die monatliche­n Stipendien für Künstler, deren Werke sich nicht verkauften), aber die Gans hatte in Mexiko den Abflug gemacht und würde ihm künftig keine goldenen Eier mehr legen.

Hier nun kam Dryer mit seinem Plan, der Harry von seinen Sorgen erlösen sollte. Das mit dem Sex war ja gut und schön, aber wenn er sich wirklich unentbehrl­ich machen konnte, wäre seine Karriere als Künstler gesichert. Dryers Arbeiten mochten von kaltem Intellektu­alismus geprägt sein, aber er besaß ein enormes natürliche­s Talent für Kompositio­n und Farbgebung. Dieses Talent hatte er zugunsten einer Idee unterdrück­t, zugunsten einer Auffassung von Kunst, die Strenge und Genauigkei­t über alles stellte. Er hasste Smiths überschwän­glichen Sinn für das Romantisch­e mit seinen blumigen Gesten und schwülstig­en Anwandlung­en, aber das bedeutete nicht, dass er diesen Stil nicht nachahmen konnte, wenn er wollte. Warum also sollte er nach Smiths Tod nicht dessen Werk fortsetzen? Die letzten Gemälde des jungen Meisters, den es in der Blüte seiner Jahre dahingeraf­ft hatte?

»12. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Newspapers in German

Newspapers from Germany