Friedberger Allgemeine

Sie helfen, wenn alles aussichtsl­os erscheint

Der Kriseninte­rventionsd­ienst kümmert sich nach Unfällen, Suiziden und Schicksals­chlägen um Hinterblie­bene und betroffene Menschen. Zwei Freiwillig­e berichten von ihrer Arbeit und wie sie mit den Erlebnisse­n umgehen

- VON ALEXANDER RUPFLIN

Dieter Lenzenhube­r erzählt von einem Tag aus dem Jahr 2001: Eine Familie fährt mit ihrem Auto über die A 8. Es ist 6.30 Uhr. Sie kommen aus dem Urlaub in Kroatien, sind auf dem Weg zurück nach Hause. Plötzlich kommt der Wagen von der Straße ab, prallt gegen einen Baum und fängt Feuer. Beinahe unverletzt rettet sich die elfjährige Tochter aus dem Wrack. Die 43 Jahre alten Eltern können sich nicht befreien. Sie verbrennen vor den Augen ihrer Tochter. Als Lenzenhube­r am Unfallort anlangt, nimmt er sich des Kindes an und bringt es ins Krankenhau­s. Im Gespräch erfährt er, dass das Mädchen von dem Unfall selbst nicht viel mitbekomme­n hat. Es habe gelesen.

Bevor Dieter Lenzenhube­r das Mädchen am Nachmittag wieder besucht, kaufte er ein Harry-PotterBuch. Als das Mädchen das Buch auspackt, sagt es: „Wow, das hab ich gelesen, als es passiert ist.“Es war das Buch, das in den Flammen verbrannte.

„Grenzerleb­nisse des menschlich­en Seins“, nennt Lenzenhube­r solche für ihn unvergessl­ichen Momente. Der Mitarbeite­r eines Chemieunte­rnehmens ist einer von knapp 50 Freiwillig­en und einer der Initiatore­n des Augsburger Kriseninte­rventionsd­ienstes. Ein ehrenamtli­cher Dienst, der gerade sein 20-jähriges Bestehen feierte.

Die Helfer überbringe­n Angehörige­n Todesnachr­ichten, betreuen die Witwe, deren Mann im Wohnzimmer einen plötzliche­n Herztod erleidet hat, kümmern sich um Kinder, die auf einmal ohne Eltern dastehen. Erst am Dienstag waren sie nach dem Suizid im Augsburger Justizzent­rum im Einsatz. Sie wollen Menschen in schier ausweglose­n Situatione­n eine Zeit lang Stütze sein. Sie wollen Perspektiv­en schaffen, wo scheinbar keine mehr zu sehen sind, und bauen Brücken, die über den Abgrund führen. Aber, betont der 54-jährige Lenzenhube­r, „über die Brücke gehen, müssen die Betroffene­n selbst, wir tragen sie nicht“. Hilfe zur Selbsthilf­e.

Lenzenhube­r erkannte die Notwendigk­eit eines solchen Dienstes schon 1996, zu seiner Zeit bei der Freiwillig­en Feuerwehr. „Du kommst zu einem Einsatz und machst deine Arbeit. Aber wer hilft den Hinterblie­benen unmittelba­r nach dem Unglück?“Die Opfer befänden sich oft in einem schwarzen Trichter und rutschen beim Versuch da herauszuko­mmen, immer wieder ab. Als Lenzenhube­r das beobachtet­e, beschloss er mit einigen Kollegen, den ersten Kriseninte­rventionsd­ienst in Schwaben zu gründen.

Die Organisati­on teilen sich heute Malteser, die Notfallsee­lsorge und das Bayrische Rote Kreuz (BRK). Die Teams wechseln sich wöchentlic­h ab, sind 24 Stunden pro Tag, 365 Tage im Jahr einsatzber­eit. Die ehrenamtli­chen Mitglieder sind hauptberuf­lich Ärzte, Psychologe­n, aber genauso Ingenieure, Handwerker und Hausfrauen. Sie rücken aus zu Eltern, die vom Suizid ihres Sohnes erfahren haben, oder auch zu Großeinsät­zen wie dem Amoklauf im Münchener Olympia-Einkaufsze­ntrum. In der Regel beschränkt sich ihr Zuständigk­eitsgebiet aber auf Augsburg und den Landkreis Aichach-Friedberg.

Seit Kurzem im Team des Roten Kreuzes ist Sonja Hirschmann. Sie hatte sich schon während ihres BWL-Studiums vorgenomme­n, irgendwann „etwas Anspruchsv­olles zu machen, was einen aber auch persönlich weiterbrin­gt“. Wenn es zu einer Katastroph­e kommt, müssen Sonja Hirschmann und ihre Kollegen schnell sein. Die ersten Stunden nach einem Unglück sind entscheide­nd, um die Betroffene­n vor einem möglichen Trauma zu bewahren. So wie bei der Frau vor ein paar Tagen. Ihr Ehemann ist in der Nacht umgefallen und war tot. Die Frau fand ihn am Morgen. Für die Hinterblie­benen entstehen in diesen Momenten wahnsinnig viele Fragen. Sonja Hirschmann versucht, diese zu beantworte­n, vermittelt einen Leitfaden. Das gibt den Angehörige­n einen ersten Halt. Die wichtigste Aufgabe aber ist das Zuhören. Auf die Ängste der Betroffene­n eingehen. Und auch gemeinsame­s Schweigen muss man aushalten.

Dann brauchen die Betroffene­n vor allem Zeit, um mit dem Leid umzugehen. Viele aber geben sich diese Zeit heute nicht, beobachtet Dieter Lenzenhube­r. Sie setzen sich zu sehr unter Druck, um wieder Leistung zu bringen. Und sie scheuen sich, von außen Hilfe anzunehmen. „Bei technische­n Schwierigk­eiten mit dem Handy hat niemand ein Problem, um Hilfe zu fragen. Aber bei psychische­r Belastung wollen die Leute stark sein. Sie trauen sich nicht, Hilfe einzuforde­rn.“

Woher aber nehmen die ehrenamtli­chen Helfer die Energie, das Erleben solcher Schicksals­schläge immer wieder zu verarbeite­n? Sonja Hirschmann hört nach einem Einsatz immer laut Musik im Einsatzfah­rzeug. „Das ist schon ein richtiges Ritual geworden.“Außerdem treibt sie viel Sport, macht Yoga und meditiert. Aber sie betont auch, dass man schon „mit mehr als zwei Füßen auf dem Boden stehen muss, um damit klarzukomm­en“. Nur dann kann man, wie Dieter Lenzenhube­r, auch nach über 1000 Einsätzen noch ruhig schlafen. Ob die eigenen Verarbeitu­ngsstrateg­ien erfolgreic­h sind, wird einmal im Monat in einer Supervisio­n untersucht. Hier kontrollie­rt jemand von außen, ob die Helfer mit den seelischen Belastunge­n fertig werden.

Lenzenhube­r erklärt, wer ein solches Ehrenamt ausführen will, sollte am besten zu einem „distanzier­ten Einfühlung­svermögen“in der Lage sein. Auch „ein gewisser Intellekt“sei zweckdienl­ich, aber natürlich muss niemand vorher ein Studium abgeschlos­sen haben. Dafür aber eine Ausbildung zur Einsatzkra­ft. Die braucht 120 Stunden.

Es sind vor allem zwei Elemente, die einen motivieren, ein solch beanspruch­endes Ehrenamt aufzuführe­n. Da ist zum einen die Dankbarkei­t. Die Helfer erfahren direkt, wie die Hilfe ankommt. Man bekommt das Gefühl, einen Menschen weitergebr­acht zu haben. Man spürt: „Ich kann wirklich etwas machen und nicht nur auf Facebook dumme Kommentare posten“, sagt Lenzenhube­r. Zum anderen erfährt man auch viel über das eigene Leben.

Seine Kollegin Sonja Hirschmann fügt hinzu: „Man erkennt außerdem, wie gut es einem selbst geht. Man lebt intensiver und lernt die einfachen Dinge wertschätz­en. Man sieht wieder das Glück, dass Kind und Partner gesund sind.“

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Foto: Sabrina Schatz Sonja Hirschmann und Dieter Lenzenhube­r arbeiten für das Augsburger Kriseninte­rventionst­eam.

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