Individualität in der Wohngemeinschaft
In der Friedberger Sozialstation treffen elf unterschiedliche Charaktere aufeinander. Wie das neue Projekt Menschen mit Behinderung die Chance auf mehr Selbstbestimmung ermöglicht
Friedberg Im lichtdurchfluteten Gemeinschaftsraum herrscht reger Betrieb. Ein Häppchen hier, ein Stück Kuchen da. Zwei Bewohner sitzen auf dem grün umrankten Balkon und trinken Kaffee. Ein anderer zieht sich bei all dem Trubel lieber wieder in sein Zimmer zurück.
Etwa 50 Gäste kamen zur Einweihung des neuen Wohnprojekts St. Afra in Friedberg. Im ersten Stock der Sozialstation, in dem bis 2014 die Kurzzeitpflege untergebracht war, leben jetzt elf Bewohner im Alter von 20 bis 60 Jahren in einer WG zusammen. Manche sind körperlich eingeschränkt und sitzen im Rollstuhl, andere sind mehrfach behindert. „Es war unser Ziel, Menschen mit unterschiedlichem Hilfsbedarf zusammenzubringen“, sagt Gerhard Frick, der seit 27 Jahren für die Offenen Hilfen im Landkreis zuständig ist und das Projekt leitet. „Ich freue mich, dass wir so ein Angebot jetzt auch in Friedberg haben.“Die Umbaukosten der Räum- beliefen sich auf 342000 Euro.
Die meisten Bewohner kommen aus der näheren Umgebung. Eine von ihnen ist Judith Koch. Die 63-Jährige lebt seit Anfang Mai in der Wohngemeinschaft und ist froh über ihre Entscheidung. „Anfangs war ich skeptisch. Ich hatte mich gerade in einer anderen Einrichtung eingelebt“, erzählt sie. „Aber mittlerweile fühle ich mich richtig wohl hier.“Die Zimmer seien geräumig, jeder habe sein eigenes Bad und die Mitbewohner seien auch nett.
Der Tag in der WG beginnt früh, denn die Arbeit ruft. Egal, ob in einer Firma oder einer Förderstätte, alle Bewohner gehen einer Beschäftigung nach. „Eine geregelte Tagesstruktur außerhalb des Wohnprojekts war eine Grundvoraussetzung, damit es funktioniert“, sagt Frick. Nicht alle Bewohner müssen zur gleichen Zeit los. Jeder frühstückt, wann es ihm am besten passt. Manche fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit, andere werden abgeholt. Für Judith Koch es um sieben Uhr mit dem Bus nach Augsburg in die Ulrichswerkstätte. Um fünf hat sie Feierabend, dann freut sie sich schon auf ihr eigenes Zimmer. „Das ist echt etwas wert“, sagt die 63-Jährige. „Es ist einfach toll, nach Hause zu kommen, seine Sachen ablegen zu können und erst mal ein bisschen Ruhe zu haben.“
So angenehm es sei, die Türe hinter sich zumachen zu können, so schön sei es auch, in Gemeinschaft zu wohnen. „Es klappt sehr gut“, erzählt Koch. „Wir sind alle sehr unterschiedlich, aber haben uns schon gut aneinander gewöhnt.“Es sei ein angenehmes Zusammenleben und sie verstehe sich gut mit ihren Mitbewohnern. Ab und zu besuche man sich im Zimmer oder sitze zusammen auf dem Balkon. „Selbst wenn es mal kriselt, kann man ins Zimmer gehen und die Tür zumachen“, sagt sie lachend. Nach kurzer Zeit vertrage man sich auch wieder.
„Es könnte eigentlich nicht schöner sein“, schwärmt die 63-Jährige. Besonders schätzt sie die gegenseitilichkeiten ge Unterstützung. „Man hilft zusammen und jeder macht, was er kann, das finde ich toll.“Gemeinsam wird abends gekocht, der eine schneidet, der andere rührt oder probiert, ob es auch schmeckt. Aber niemand ist verpflichtet, mitzumachen. „Wenn ein Bewohner mal früher oder alleine essen will, wollen wir dem auch gerecht werden“, betont Frick. Denn es gehe nicht nur um die Gruppe, sondern darum, den Bewohnern viel Individualität zu ermöglichen. „Manche sind in einem Alter, in dem man vielleicht nicht mehr unbedingt in einer WG leben würde“, sagt er. Da sei es wichtig, Freiräume zu schaffen. Unterstützt werden die Bewohner in ihrem Alltag von neun Teilzeitpflegekräften.
„Es war eine Herausforderung, elf Menschen, die sich erst einmal finden müssen, zusammenzubringen“, beteuert Frick. „Aber wir sind ganz gut gestartet.“Jetzt sei es wichtig für die Bewohner, in Friedberg anzukommen und am normalen Stadtleben teilzunehmen. Das sieht Judith Koch ähnlich. Ihre angeht fänglichen Zweifel sind ausgeräumt. „Es war auf jeden Fall die richtige Entscheidung, hier einzuziehen“, sagt Koch. Ganz angekommen ist die 63-Jährige noch nicht. Vorhänge, kleinere Möbel und ein paar Bilder an den Wänden fehlen noch. Aber dann fühlt sie sich in ihrem neuen WG-Zimmer heimisch.