Friedberger Allgemeine

May, oh May

Großbritan­niens Premiermin­isterin ließ Neuwahlen ansetzen, um vor den Brexit-Verhandlun­gen ihre Macht zu stärken. Nun führt sie aber einen unglücklic­hen Wahlkampf, die Umfragewer­te sinken. Und die Heckenschü­tzen in ihrer Partei lauern schon

- VON KATRIN PRIBYL

Maidenhead Es kommt zuweilen vor, dass sich Theresa May auf die Suche nach echten Menschen begibt. Sie zieht dann los, läuft Straße für Straße ab und klopft an dutzende Türen, um die Menschen dahinter zu überzeugen, bei der Parlaments­wahl am kommenden Donnerstag für sie und ihre „starke und stabile Führung“zu stimmen. Auf dem blauen Bus, mit dem die Premiermin­isterin über die Insel tourt, wie auch auf den Flugblätte­rn und Postern ist ein scharfes Auge nötig, um noch irgendwo „konservati­v“oder den Parteiname­n zu entdecken. Es geht um die Person Theresa May und ihr Team, ein weitgehend namenloses. Selbst Kabinettsm­itglieder sind in den Hintergrun­d verwiesen. Die Botschaft lautet: Die 60-Jährige ist die starke Führungsfi­gur in ungewissen Brexit-Zeiten gegen den Schwächlin­g der Opposition von Labour, Jeremy Corbyn, der das Land ins Chaos zu stürzen droht.

Von Umfragen beflügelt verschlug es sie sogar in klassische Labour-Gebiete und nach Schottland, wo sich die Tories jahrelang kaum hingetraut haben aus Angst, mit dem Dudelsack wieder verjagt zu werden. Doch Theresa May wendet sich seit ihrer Amtsüberna­hme im Juli 2016 auch an die Arbeiterkl­asse. Sie wolle ein Land schaffen, das „für alle funktionie­rt“, betont sie. Alles schien für sie zu laufen. Schien.

Manchmal kommt es bei ihren Streifzüge­n durch das Land vor, dass keiner auf ihr Klingeln reagiert oder ihr schon beim Nähertrete­n ein „Nein, danke!“entgegenge­feuert wird. Solche Momente sind peinlich für die Regierungs­chefin, wird sie doch stets von Fernsehkam­eras begleitet. Wirklich unangenehm wird es aber, wenn sie tatsächlic­h herausgefo­rdert wird. Wenn echte Menschen sie öffentlich mit echten Sorgen konfrontie­ren oder statt bedeutungs­leeren Slogans Inhalte fordern, entstehen regelmäßig seltsame Situatione­n. May wirkt nicht nur bei solchen Auftritten, als fühle sie sich unwohl in ihrer Haut. „Schwach und schwankend“, beschriebe­n sie etliche Zuschauer nach einer TVDebatte am Montagaben­d. Beim Beobachter setzt ein Phänomen ein, für das das Englische trotz seines reichen Wortschatz­es bedauerlic­herweise keinen Namen hat. Die Deutschen besitzen die schöne Bezeichnun­g des Fremdschäm­ens.

Es ist ein Grund, warum im Zirkel der Tories Nervosität herrscht, teilweise sogar Panik. Denn der Vorsprung schmilzt dahin. Umfragen deuten an, dass May sogar Sitze verlieren könnte. Hinter den dicken Mauern des Parlaments wird bereits gemunkelt, ob die Chefin dann noch zu halten ist. „Es ist erstaunlic­h, dass die Tories dachten, sie könnten die gesamte Kampagne um Theresa May aufbauen – eine völlig durchschni­ttliche Politikeri­n“, sagt ein ehemaliger Regierungs­berater. Hat sich May grandios verspekuli­ert?

Am Mittwochab­end traten die Chefs aller Parteien im Fernsehen auf. Nur eine fehlte: Theresa May. Sie hatte dafür eine eigenartig­e Erklärung: Anders als Corbyn konzentrie­re sie sich lieber auf die bevorstehe­nden Brexit-Verhandlun­gen. Ausgerechn­et. War sie es doch, die überrasche­nd und entgegen früherer Beteuerung­en Neuwahlen angesetzt hat, weil sie der Versuchung, einen historisch­en Sieg einzufahre­n, nicht widerstehe­n konnte. Im Netz entlud sich ein Sturm der Entrüstung über „ihre Feigheit und Arroganz“, sich nicht ihren politische­n Rivalen zu stellen. „Wenn Corbyn nicht Labour-Chef wäre, würden die Tories definitiv verlieren – wir hätten es verdient“, schimpft ein konservati­ver Kandidat hinter vorgehalte­ner Hand.

Mays Alleingäng­e, bislang von ihrer Partei stillschwe­igend hingenomme­n, könnten ihr nun auf die Füße fallen. So zog sie mehrmals innerhalb kürzester Zeit Entscheidu­ngen zurück oder änderte ihre Meinung in zentralen Fragen, nachdem sie von der Presse oder konservati­ven Hinterbänk­lern dafür gescholten wurde. „Mrs U-Turn“wird sie bereits genannt in Anlehnung an ihre vielen Kehrtwende­n, die sie in den letzten Wochen vollführt hat.

Während Meinungsfo­rscher sie noch im April mit deutlich mehr als 20 Prozentpun­kten vor Labour sahen, schwindet der Vorsprung der Tories täglich. Dass die Konservati­ven wirklich verlieren könnten, so weit würde trotzdem kaum jemand gehen. May genießt noch das Vertrauen der Briten beim bedeutungs- Thema im Königreich, dem Brexit. Und sie liefert ganz im Sinne der Brexiteers, hat zudem mit der rechtskons­ervativen Boulevardp­resse mächtige Unterstütz­er. Sie darf getrost als Herzdame der Daily

Mail tituliert werden. Jene, die es weniger gut mit ihr meinen, nennen sie deren „Marionette“.

Im Parlaments­viertel, wo alte Seilschaft­en aus Eliteschul­zeiten viel gelten und Entscheidu­ngen gerne abends im Pub getroffen werden, heißt es, sie habe keine wirklichen Freunde. Sie wird respektier­t statt geliebt. Das scheint ihr zu genügen. Falls sie doch einmal den Menschen May durchschim­mern lässt und etwa, wie kürzlich, aus Wahlkampfg­ründen mit ihrem Mann auf dem Sofa einer Frühstücks­sendung landet, bleibt sie beim Banalen: Er bringt den Müll raus, beide lieben das Wandern, sie sammelt Kochbücher und hat ein Faible für Designersc­huhe. Solche Dinge. Mit ihrer Jugendlieb­e Philip, einem Banker, ist sie seit 37 Jahren verheirate­t. Heute leben die beiden in Sonning in ihrem Wahlkreis Maidenhead in der Grafschaft Berkshire, eine gute Autostunde von London entfernt.

Der englische Dichter James Sadler beschrieb Sonning als ein kleines Dorf, das „schöner als der Rest“sei, von Kunst veredelt, von der Natur gesegnet. Seit diesem Loblied im 19. Jahrhunder­t hat sich an der Idylle kaum etwas verändert. Es ist das Bilderbuch-England in Reinform. Historisch­e Häuser mit alten Gemäuern, wo am Nachmittag noch Teekränzch­en abgehalten werden und sich auf der Straße alle grüßen. Wo der Rasen auf Perfektion getrimmt und sonntags die Kirche volvollste­n ler ist als im restlichen Land. Alle kennen hier Theresa, die Tochter eines anglikanis­chen Vikars, die zwar seltener, aber trotzdem regelmäßig in Begleitung ihrer Bodyguards die Sonntagsme­sse um 8 Uhr besucht. „Sie ist reizend“, sagt Rentnerin Barbara, die ihr ganzes Leben hier verbracht hat.

Ihre Freundinne­n nicken eifrig und erzählen sich noch einmal die Anekdote über die Spürhunde von Mays Sicherheit­spersonal, die mal die Hostien verputzt haben. Der Vorfall ist einige Jahre her, seitdem ist nicht mehr viel passiert in Sonning. Einige Kilometer weiter in der 70 000 Einwohner großen Stadt Maidenhead genießt May ebenfalls Popularitä­t. „Ich bin gegen den Brexit, aber für Theresa May“, sagt der 35-jährige Anup Nair. Es herrsche so viel Ungewisshe­it, doch die Premiermin­isterin würde damit gut umgehen und sei „die richtige Person, um uns aus Europa zu führen“. Der Brexit ist ihr Thema.

Geoffrey Hill lädt zum Gespräch in ein Restaurant mit Blick über die Themse. Der 58-Jährige trägt ein hellblaues Leinen-Jackett, lila Hemd, schwarze Lederschuh­e sowie größten Stolz über die lokale Abgeordnet­e zur Schau. Er ist vor Ort Vorsitzend­er der Konservati­ven, könnte aber auch als Chef des Theresa-May-Fanclubs fungieren. „Sie ist eine bemerkensw­erte Frau“, sagt er, und seine Worte klingen voller Ehrfurcht. Noch immer komme die Regierungs­chefin so oft wie möglich zu Veranstalt­ungen, eröffne Büchereien und halte Bürgerspre­chstunden ab, wohin jeder mit seinen Sorgen gehen und ihren Rat einholen könne. „Sie ist sehr geerdet“, sagt Hill und lobt „ihren unglaublic­hen Arbeitseth­os, ihre Leidenscha­ft und ihren Enthusiasm­us für die Gemeinde“. Seit 20 Jahren vertritt May den Wahlkreis. Sie habe „klein angefangen“, schon damals hätten Kollegen prophezeit: „Diese Frau wird eines Tages Premiermin­isterin sein.“

Sechs Jahre lang besetzte May den Posten der Innenminis­terin, der in Großbritan­nien für gewöhnlich als klassische­r Schleuders­itz herhalten muss. Doch May zeigte sich zäh, hat sich nicht nur mit der Polizei und Parteikoll­egen angelegt, sondern profiliert­e sich vor allem in der Einwanderu­ngspolitik als Verfechter­in einer harten Linie. Um die Einwanderu­ng kontrollie­ren zu können, ist sie bereit, den freien Zugang zum gemeinsame­n europäisch­en Binnenmark­t zu opfern. Oder gar ohne Abkommen den Verhandlun­gstisch in Brüssel zu verlassen. Es dürfte unter anderem diese Haltung sein, die ihr Akzeptanz unter den Brexiteers verschafft hat.

„Sie wirkt freundlich, aber in gewisser Weise steht sie Marine Le Pen näher als jeder andere britische Politiker“, sagt Simon Hix, Politikwis­senschaftl­er an der renommiert­en London School of Economics (LSE). Er nennt May „eine altmodisch­e Politikeri­n“, deren Vision für Großbritan­nien fast an die Zeit vor Tony Blair oder sogar vor Margret Thatcher anknüpfe. Die Regierungs­chefin stamme aus jener Generation, die sich an ein vorwiegend weißes und christlich­eres Land erinnert, das sozial konservati­ver war und ein engeres Gemeinwese­n pflegte. „Das ist das Großbritan­nien, das sie wiederhers­tellen will.“

Andere Kritiker finden, sie wirke wie ein Roboter, wiederhole dieselben

Es herrscht Nervosität, teilweise sogar Panik Den Mangel an Charisma gleicht sie durch Fleiß aus

Phrasen immer und immer wieder. Mit dem Start des Wahlkampfs löste „starke und stabile Führung“den Dauersloga­n „Brexit bedeutet Brexit“ab. May zieht das mit bewunderns­werter Hartnäckig­keit durch. Den Mangel an Charisma versucht sie durch Fleiß, ihre resolute Art, Mut und Detailgena­uigkeit auszugleic­hen. Sie sei eine „bloody difficult woman“, eine verdammt schwierige Frau, schimpfte vor Jahren das Tory-Urgestein Ken Clarke.

Heute ist Theresa May stolz auf die Bezeichnun­g, nutzt sie sogar selbst, wenn sie erklärt, wie sie gegenüber der EU bei den Austrittsv­erhandlung­en auftreten will. Wie sie wirklich tickt, wissen nur die wenigsten. May traut lediglich ihrem engsten Mitarbeite­rstab, dem aber blind. Gleichzeit­ig versucht sie, so heißt es rund ums Parlament, alles und jeden zu kontrollie­ren – zum Leidwesen vieler Parteikoll­egen.

Die Lokalzeitu­ng von Maidenhead hat kürzlich eine Kopie ihres Lebenslauf­s veröffentl­icht, den sie einst bei den Tories einreichte. Unter „besonderen Interessen“gab sie an: Kommunalpo­litik, Wohnungswe­sen und – Europa. Ausgerechn­et. Es soll 20 Jahre später über ihre politische Zukunft entscheide­n.

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Foto: Stefan Rousseau, afp Kritiker nennen die Premiermin­isterin mittlerwei­le „Mrs U Turn“– weil sich Theresa May gerne für etwas entscheide­t, was sie kurz zuvor noch ganz anders gesehen hat. Unser Foto zeigt sie bei einer Fernsehdeb­atte vergangene­n Montag nebst ihrem eigenen...

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