Friedberger Allgemeine

Der ferngesteu­erte Mörder

Die Behörden hielten Anis Amri für einen Asylbewerb­er, der ins Drogenmili­eu abgeglitte­n ist. Die Auswertung seines Handys zeigt, wie er auf den Berliner Anschlag vorbereite­t wurde

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Anis Amri ist offenbar von Mitglieder­n der Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) zum Anschlag auf den Berliner Weihnachts­markt gedrängt worden. Selbst als der Tunesier schon den polnischen Lkw-Fahrer getötet hatte, mit dessen Lastwagen er auf dem Breitschei­dplatz zwölf Menschen tötete und 67 weitere teils schwer verletzte, soll er noch im Kontakt zu einem IS-Gewährsman­n gestanden haben.

Mehrere Medien berichten unter Berufung auf Ermittlerk­reise, dass es gelungen sei, die Daten von Amris am Tatort gefundenem Handy zumindest teilweise zu rekonstrui­eren. Obwohl Amri alles unternomme­n hat, seine digitalen Spuren zu verwischen, ist demnach nun unter anderem bekannt, welche Internetse­iten der Tunesier besucht und welche Textnachri­chten er verschickt oder erhalten hat.

Zudem hat der Terrorist offenbar vergessen, die Ortungsfun­ktion seines Smartphone­s Marke HTC auszuschal­ten. So wissen die Ermittler heute, wo und wann er sich vor der Tat aufhielt. Den Weihnachts­markt auf dem Breitschei­dplatz hatte er sieben Mal besucht, bevor er am 19. Dezember 2016 mit dem entführten Lastwagen durch die Budengasse raste und zwölf Menschenle­ben auslöschte. Fünf Tage vor dem Anschlag war er sogar zweimal dort, drehte ein Handyvideo – als wolle er den späteren Tatort vermessen.

Aus den Handy-Daten wird zudem deutlich, dass Anis Amri offenbar zu seiner Tat von einem oder mehreren bislang unbekannte­n Mitglieder­n der Terrormili­z Islamische­r Staat gedrängt wurde. Mit einem „Betreuer“beim IS stand der 24-Jährige sogar noch zu Beginn der blutigen Tat in Kontakt. Gegen diesen im Ausland vermuteten Unbekannte­n ermittelt die Bundesanwa­ltschaft laut den Berichten wegen Beihilfe zum Mord. In Deutschlan­d aber hatte Amri nach den bisherigen Erkenntnis­sen keine Mitwisser.

Um die Rolle der deutschen Behörden und deren mögliches Versagen geht es bei den neuen Enthüllung­en nur am Rande. Am 21. September 2016 stoppte die Berliner Staatsanwa­ltschaft die monatelang­e Telefonübe­rwachung Amris. Dessen Einstufung als islamistis­cher Gefährder erschien der Behörde offen- bar als fraglich, die Erkenntnis­se der Abhöraktio­n legten nahe, dass der tunesische Asylbewerb­er komplett ins Drogenmili­eu abgeglitte­n ist. Dass er seine früheren Anschlagsd­rohungen wahr machen könnte, galt als unwahrsche­inlich.

Die Handydaten sprechen nun für exakt das Gegenteil. Spätestens im Oktober 2016 war Amri wohl fest entschloss­en, für den IS zu töten. Er diente sich der Terrormili­z als Kämpfer an und wollte nach Syrien oder in den Irak reisen. Doch die Terroriste­n überzeugte­n ihn offenbar, in Berlin zu bleiben. Bereits seit 2014 hat sich die Strategie des IS geändert. Die Dschihadis­tenmiliz versucht seitdem nicht mehr, möglichst viele Islamisten als Kämpfer nach Syrien und in den Irak zu locken. Sondern drängt diese zu Anschlägen in den Ländern, in denen sie leben.

Am 1. November legte Anis Amri eine Art Treueschwu­r auf den IS ab, das Video davon sollte die Terrororga­nisation nach der Tat veröffentl­ichen. Nur wenige Tage später schickte der IS Amri einen langen Text mit dem Titel: „Die frohe Botschaft zur Rechtleitu­ng für diejenigen, die Märtyrer-Operatione­n durchführe­n“. Es dient der Gehirnwäsc­he von künftigen Attentäter­n, soll deren letzte Zweifel ausräumen und betont etwa, dass es auch in Ordnung sei, wenn Frauen, Kinder und Alte bei Anschlägen sterben.

Statt wie zuvor nach Pornoseite­n suchte Amri nun fast nur noch islamistis­che Inhalte im Internet. Mit seinem unbekannte­n Anleiter beim IS stand Amri in fast ständigem engem Kontakt. Auch dann noch, als er den polnischen Fahrer Lukasz Urban schon in den Kopf geschossen hatte, um den schweren ScaniaLast­wagen zu entführen. „Ich bin jetzt in der Karre, verstehst du. Bete für mich Bruder“, schrieb Amri aus der Fahrerkabi­ne. Der Kontakt antwortete: „Gott sei Dank“. Dann fuhr Amri los zum Weihnachts­markt.

Und noch eine weitere beunruhige­nde Erkenntnis legen die Nachrichte­n auf Amris Handy nahe: Der Anschlag in Berlin war nicht als Selbstmord­attentat geplant – sondern als Aktion, bei der der Attentäter überleben darf. Um weiter zu morden. Die italienisc­hen Polizisten, die Amri auf der Flucht erschossen, haben also möglicherw­eise weitere Bluttaten verhindert.

Den späteren Tatort auf einem Video vermessen Bis zuletzt Kontakt zu seinem Hintermann

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Foto: Bundeskrim­inalamt, dpa Anis Amri hinterließ auf seinem Handy umfangreic­he Spuren, die von der Polizei jetzt ausgewerte­t wurden.

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